In diesen Sommer fiel auch der Besuch von Erna und Hans Biberstein, über den ich früher berichtete. Ich habe erzählt, wie Toni und Erich Danziger mir halfen, meine Gäste zu versorgen und zu unterhalten. Hans wurde bei Danziger einquartiert, für Erna konnte mir Frau Mußmann, meine gute Wirtin, ein Zimmer zur Verfügung stellen. Das Abendessen nahmen wir meist zu viert in meinem Zimmer, manchmal waren wir auch alle bei Toni eingeladen. Mittags waren meine Gäste meist ausgeflogen, sonst gingen wir, wenn ich mich recht erinnere, wieder in das nette vegetarische Speisehaus. Unser Privatmittagstisch war für diese Tage nicht geeignet, weil man dort an einer langen Tafel aß, an der keine vertrauliche Unterhaltung möglich war.
Die liebevolle weibliche Fürsorge, mit der mich Toni umgab – sie hatte z.B. bald eine Gärtnerei in unserer Nähe entdeckt und versorgte mein Zimmer mit frischen Blumen –, ihr warmer Anteil an allem, was mich betraf, hat sicher dazu beigetragen, daß dieser Sommer wieder recht sonnig für mich wurde. Natürlich kam hinzu, daß ich die schwere Last des letzten Winters los war. Es blieb zwar ein großes Arbeitspensum für die mündliche Prüfung zu bewältigen, außerdem die Überarbeitung der philosophischen Staatsarbeit mit Rücksicht auf das veränderte Thema, aber das alles war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was hinter mir lag. Eine wesentliche Erleichterung für das rein gedächtnismäßige Einprägen des Prüfungsstoffes war es, daß sich Arbeitsgefährtinnen zu mir fanden. Für Geschichte war es eine studierende Lehrerin aus Lehmanns Seminar: Käthe Scharf aus Hirschberg, also eine schlesische Landsmännin. Sie war ein fröhlicher Mensch und wollte sich auch das Examen möglichst gemütlich machen. Die Meldung schob sie noch etwas hinaus, um sich erst in aller Ruhe vorzubereiten. Über alle Prüfungsbedingungen, um die ich mich nie gekümmert hatte, wußte sie genau Bescheid. So erfuhr ich, daß Lehmann sich bei der mündlichen Prüfung genau nach seinen Vorlesungen richte, daß man bei ihm zwei seiner großen und eine der kleineren Vorlesungen als Spezialgebiet angeben müsse; außerdem habe man in der Geschichtsprüfung auch Kenntnis des Griechischen nachzuweisen, wenn man nicht vom humanistischen Gymnasium käme; Lehmann pflege stets den Anfang von Xenophons Anabasis vorzulegen. (Diesen Anfang konnte ich auswendig, noch von dem Breslauer Anfängerkursus her.) Wir wählten als Spezialgebiete die Zeit des Absolutismus und das Revolutionszeitalter, ferner die Revolution von 1848/49, aus der wir unsere Staatsarbeiten hatten. Wir arbeiteten unsere sorgfältigen Kollegnachschriften miteinander durch. Die angegebenen Quellenschriften und die wichtigsten Werke über jene Zeitabschnitte ließen wir uns aus der Bibliothek wagenweise in den Lesesaal fahren. Es war unmöglich, alles ganz zu lesen, aber wir wollten doch die Sachen alle einmal gesehen und in der Hand gehabt haben. Soviel sich bewältigen ließ, nahm ich mit nach Hause und las es in Abendstunden oder sonst zu einer Zeit, in der ich zu anstrengenderen Leistungen nicht mehr fähig war. Viel Ranke habe ich damals gelesen, besonders die Staatengeschichten mit großer Freude. Dazu Voltaire, Rousseau, Montesquieu und noch vieles andere. Es gab ein großes farbenreiches Bild, eine wirkliche Berührung mit dem geschichtlichen Leben. Sehr vergnüglich war das gegenseitige Abhören. An schönen Tagen liefen wir dabei über die Göttinger Hügel. Ich kam nun auch hinter die Technik der Examenspaukerei. Die wichtigsten Tatsachen in unseren Heften mußten rot unterstrichen werden, eine noch engere Auswahl rot und blau, die engste rot, blau und grün. Mit dieser Hilfe konnte man in den allerletzten Tagen unglaublich viel noch einmal überfliegen und kam tatsächlich dahin, daß man so ziemlich alles bei der Hand hatte, als es galt.
Wenn wir abends zusammen arbeiteten, luden wir uns schon zum Nachtessen ein. Bei Käthe Scharf war das besonders gemütlich. Sie hatte nämlich ihre Mutter bei sich, die Haushalt für sie führte. Diese gute Frau war mit ihrem Kinde auf die Universität gekommen und ließ lieber ihren Mann allein daheim als die Tochter in der fremden Stadt. Das kam mir sehr merkwürdig vor, und der Vater tat mir immer leid. Aber wahrscheinlich waren beide Eltern sich darin einig, daß sie ihr Kind so vor den Gefahren des Studentenlebens schützen wollten. Philosophiegeschichte und Germanistik arbeitete ich mit Lotte Winkler, die ich im Psychologischen Institut kennengelernt hatte. Hier führte die gemeinsame Arbeit zu etwas mehr als fröhlicher Kameradschaft. Lotte Winkler war wohl auch gern lustig, aber sie hatte tiefergehende wissenschaftliche Interessen. Außerdem hatte sie persönlich Schweres zu tragen und sprach sich mit mir darüber aus: Sie war Protestantin, war aber mit einem jüdischen Rechtsanwalt verlobt, dessen Vater entschieden gegen die Heirat war. Wir blieben nach ihrer Verheiratung noch längere Zeit in Briefwechsel.
In diesem Sommer kam Pauline Reinach nach Göttingen, um ihr Studium zu beginnen. Sie besuchte nun mit ihrer Schwägerin zusammen das Kolleg ihres Bruders. Persönlich lernte ich sie wohl zuerst bei der üblichen Semesterschluß-Einladung bei Husserls kennen. Sie war in Gesellschaft überaus temperamentvoll, witzig und schlagfertig. Aber wenn man allein mit ihr sprach, bekam man Einblicke in eine tiefe, stille und wahrhaft beschauliche Seele. Ihr Kopf erinnerte an gotische Holzskulpturen, und ihre Hände waren so zart und beseelt wie die einer praeraffaelitischen Heiligen. Dem entsprach auch die Art, wie sie ihr Studium auffaßte. Sie hatte klassische Sprachen gewählt und konnte sich mit ganzer Seele in einen Schriftsteller vertiefen, der ihr Freude machte; ein schulmäßiges Arbeiten für praktische Zwecke lag ihr ganz fern. Ihr Bruder Ado pflegte scherzend von ihr zu sagen: »Paulinchen – eine Welt für sich!« Und Hein, der jüngste der drei Geschwister Reinach, rief ihr einmal zu, als er sie still dasitzen und vor sich hingucken sah: »Pauline, nimm wenigstens ein Buch in die Hand!« Wenn man ein paarmal mit ihr in der Familie zusammengewesen war, fing man ganz von selbst an, sie mit ihrem Vornamen zu nennen. Es kam einem unnatürlich vor, »Fräulein Reinach« zu ihr zu sagen.
Noch einige andere Leute waren in diesem Sommer neu nach Göttingen gekommen. Reinach berichtete