In diesem Semester kam auch Hering für einige Wochen, um sein Staatsexamen zu machen. An jenem Abend bei Husserl wurde die bestandene Prüfung gefeiert und ebenso die von Fräulein Ortmann. In ihrer Freude war sie auch gegen mich liebenswürdiger als bisher. Mit Hering brauchte man nicht lange zusammenzusein, um mit ihm Fühlung zu haben. Er kam jedem mit einer kindlich-offenen Art entgegen, hinter der eine tiefe und zarte Güte stand. Dabei war er ein Schalk und hatte beständig die erstaunlichsten Einfälle, so daß seine Gegenwart alle bösen Geister der Schwermut, der Verstimmung, der Lieblosigkeit bannte. Sein schmales Gesicht, sein blonder Spitzbart, seine dünne Stimme hatten etwas vom tapferen Schneiderlein. Husserl liebte ihn sehr und schätzte zugleich seine philosophische Begabung. Er hatte eine Arbeit über Lotze als Thema zum Staatsexamen gehabt. Seine Abhandlung über Wesen, Wesenheit und Idee, die später im Jahrbuch gedruckt wurde, ist daraus hervorgegangen.
Mit Bell wurde ich seit dem Winter dadurch etwas näher bekannt, daß auch er eine Doktorarbeit bei Husserl hatte. Das verband uns als »Leidensgefährten«. Er liebte es durchaus nicht, wenn »der Meister« ihn bestellte, um über seine Fortschritte Bericht zu erstatten. Am besten ginge es noch, wenn man einen gemeinsamen Spaziergang mache. Beim Hinaufsteigen zum Rohns ginge Husserl der Atem aus und dann könne man selbst reden. Am Ende des Winters gab Bell die erste Fassung seiner Arbeit ab. Der Meister nahm sie als Reiselektüre mit, als er zum 80.Geburtstag seiner Mutter nach Wien fuhr. (Zu diesem Fest schrieb Reinach in unser aller Namen einen sehr lieben Glückwunschbrief, den wir alle eigenhändig unterzeichneten.) Bell sagte mir damals: Wenn gar nichts oder sehr viel an seiner Arbeit zu ändern wäre, dann wollte er erst einmal nach Hause fahren, ehe er weitermachte. Er hatte seit fünf Jahren seine kanadische Heimat und seinen Vater nicht mehr gesehen. Aber es war weder das eine noch das andere der Fall: Es wurde eine Reihe von kleinen Änderungen verlangt, und so entschloß er sich, noch den Sommer dazubleiben. Zu Beginn des Sommers erzählte er mir, sein Vater wolle nun nach Deutschland kommen, um die Kur in Bad Nauheim zu gebrauchen. Er wolle ihn in Antwerpen am Schiff abholen und auch in Nauheim meist bei ihm sein, da er gar kein Deutsch könne. Einige Zeit später erfuhr ich in einer dieser kleinen Unterhaltungen vor Beginn der Vorlesung, sein Vater habe eine Fahrkarte für die »Empress of India« gehabt, konnte aber die Reise wegen eines Herzanfalls nicht antreten. Nun war das Schiff untergegangen, und jenes so unwillkommene Hindernis hatte ihm das Leben gerettet. Dem Wiedersehen zwischen Vater und Sohn aber stellte sich bald eine ganz andere unüberwindliche Schwierigkeit in den Weg.
4.
Mitten in unser friedliches Studentenleben hinein platzte die Bombe des serbischen Königsmordes. Der Juli war erfüllt von der Frage: Wird es zu einem europäischen Kriege kommen? Alles sah danach aus, als ob ein schweres Gewitter heraufzöge. Aber wir konnten es nicht fassen, daß es wirklich dazu kommen sollte. Wer im Krieg oder nach dem Krieg herangewachsen ist, der kann sich von der Sicherheit, in der wir bis 1914 zu leben glaubten, keine Vorstellung machen. Der Frieden, die Festigkeit des Besitzes, die Beständigkeit der gewohnten Verhältnisse waren uns wie eine unerschütterliche Lebensgrundlage. Als man schließlich merkte, daß der Sturm unaufhaltsam näherkam, suchte man sich den Verlauf klarzumachen. Das stand fest, daß er ganz anders würde als alle früheren Kriege. Eine so entsetzliche Vernichtung würde es sein, daß es nicht lange dauern könnte. In ein paar Monaten würde alles vorbei sein.
Wenn Toni und ich um 7Uhr abends aus Reinachs Kolleg kamen, holten wir uns an einem Zeitungsverkauf in der Jüdenstraße die »B.Z. am Mittag«, die um diese Zeit mit dem Berliner Zug ankam. Manchmal war sie noch nicht da, wenn wir kamen. Dann gingen wir plaudernd vor der Tür auf und ab, bis sie eintraf. Andere machten es natürlich ebenso. Einmal begegneten wir dabei Reinach mit Frau und Schwester. Wir hatten uns gerade aus einem Obstladen Kirschen geholt und aßen davon zum Zeitvertreib. Im Vorbeigehen reichte ich Reinach und den beiden Damen die offene Tüte, und sie langten hinein. Ein paar Augenblicke später lief Frau Reinach hinter uns her und bot uns von ihrem Vorrat an, den sie indessen erstanden hatte. Sie mußte sich aber von ihrem Mann sagen lassen, Fräulein Steins Kirschen seien viel besser als ihre.
Als ich zur letzten Seminarsitzung in Reinachs Arbeitszimmer trat, war noch niemand da. Auf seinem Schreibtisch lag ein großer, aufgeschlagener Atlas. Bald nach mir kam Kaufmann. Auch er bemerkte die aufgeschlagene Landkarte. »Reinach studiert auch den Atlas«, sagte er. Es wurde an diesem Abend nicht mehr philosophiert. Man sprach nur noch von den kommenden Ereignissen. »Sie müssen auch mit, Herr Doktor?«, fragte Kaufmann. »Ich muß nicht, ich darf«, gab Reinach zurück. Ich freute mich herzlich über diese Antwort. Sie entsprach durchaus meinem eigenen Empfinden.
Von Tag zu Tag steigerte sich die Erregung. Ich verhielt mich aber damals schon so, wie ich es später in solchen Krisentagen ganz bewußt zu tun pflegte: Ich blieb ruhig bei meiner Arbeit, obwohl innerlich bereit, jeden Augenblick abzubrechen. Es widerstrebte mir, durch Herumlaufen und unnützes Gerede die allgemeine Aufregung zu vermehren. Es hat mich immer gefreut, wenn ich bei Homer las, wie Hektor seine Gattin ins Haus und an ihre Arbeit weist, nachdem er von ihr und seinem Söhnlein für immer Abschied genommen hat.
So saß ich am 30.Juli nachmittags um 4Uhr an meinem kleinen Schreibtisch und vertiefte mich in Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Um 5 wollte ich noch eine Vorlesung besuchen. Da klopfte es an meine Tür, und Fräulein Scharf kam mit ihrer Freundin, Fräulein Merk, auch einer Schlesierin, herein. Sie berichteten, daß ich mir den Weg sparen könnte. Es sei ein Anschlag am Schwarzen Brett, daß der Kriegszustand erklärt sei und alle Vorlesungen aufhörten. Sie beide wollten heute abend heimfahren. Während wir noch sprachen, klopfte es zum zweitenmal. Es war Nelli Courant. Richard hatte seinen Gestellungsbefehl bekommen. Wenn die Mobilmachung angeordnet würde, müßte er sich nach wenigen Tagen bei seinem Ersatzbataillon in Thüringen als Offiziersstellvertreter einfinden. Sie sollte nicht allein in Göttingen bleiben, sondern bei ihrem Vater in Breslau das Ende des Krieges erwarten. Und da Richard meinte, daß bald nach Beginn der Mobilmachung die Bahnen für den Privatverkehr gesperrt würden, sollte sie schon heute abend abreisen. Ob ich mitfahren wolle. Ich überlegte einen Augenblick: Göttingen lag im Herzen Deutschlands und hatte wenig Aussicht, einen Feind zu Gesicht zu bekommen, es sei denn als Gefangenen. Breslau dagegen war nur wenige Stunden von der russischen Grenze entfernt und war die wichtigste Festung des Ostens; es war nicht ausgeschlossen, daß es bald von russischen Truppen belagert würde. Mein Entschluß war gefaßt. Ich klappte die »Welt als Wille und Vorstellung« zu; seltsamerweise habe ich das Buch nie wieder vorgenommen. Es war jetzt etwa 5Uhr, und um 8 ging unser Zug. Ich hatte noch viel bis dahin zu erledigen. So sagte ich, wenn ich mit allem fertig würde, wollte ich um Ý 8 bei Courants sein, um mit ihnen zur Bahn zu fahren. Damit trennten wir uns. Ich glaube, mein erster Weg war jetzt zu Toni Meyer. Ich durfte sie nicht allein zurücklassen. Sie konnte sich freilich nicht so schnell entschließen wie ich. Da ich keine Zeit hatte, das Ende ihrer Bedenken abzuwarten, bestellte ich auch sie zu Courants, falls sie sich fürs Mitfahren entschiede. Sie ging nun zu anderen schlesischen Freunden (Professor Lichtwitz und Frau), um sich weiter beraten zu lassen. Ich setzte meinen Weg fort: zur Bank, um Geld zu holen, zum Mittagstisch, um meine Monatsrechnung zu bezahlen, dann zu Reinach. Ich ließ mir sein Kolleg und Seminar testieren. Er tat es, sagte mir aber, ich brauche mir sonst nirgends mehr Testate zu holen,es werde später niemand danach fragen. Er erkundigte sich, was ich vorhätte. Ich wollte zum Roten Kreuz. Er hatte nicht gedient, aber natürlich werde er sich als Kriegsfreiwilliger melden; und wenn man ihn nicht nehmen wollte, müßte General von Gündell – der jetzt wieder aktiv würde – ihm dazu verhelfen. Er schrieb sich meine Adresse auf: Wir wollten einander doch Nachricht geben, was aus uns würde. Zum erstenmal wurde mir klar, daß seine Freundlichkeit mir gegenüber nicht nur einer allgemeinen Menschenliebe entsprang, sondern herzlicher freundschaftlicher Zuneigung.
Nun