Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edith Stein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075830890
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Partner und ich kamen ganz am Schluß des Semesters an die Reihe. Wir hatten uns vorher nicht gekannt; aber da wir nun unter der gleichen Last seufzten, begleitete er mich einigemal nach Hause, um sich unterwegs mit mir über unsere Sorgen auszusprechen.

      Es war ein kluger und fleißiger Mensch; ich traute seiner Arbeit alles Gute zu. Unsere Aufgabe war mühsam. Man mußte sich über den Aufmarsch der Parteien in der Frankfurter Nationalversammlung genau unterrichten, mußte sich die Programme verschaffen: Sie waren nicht alle ohne weiteres zugänglich, wenn auch die meisten in einer handlichen Sammlung abgedruckt waren; eines bekam ich erst nach langem Suchen in einem alten Zeitungsband von 1848 aus der Heidelberger Bibliothek. Und dann kam erst die Vergleichsarbeit. Ich stand das ganze Semester hindurch etwas unter diesem Druck. Endlich kam die Sitzung, in der Lehmann uns aufs Korn nahm. Er tat dies übrigens immer in sehr freundlicher Weise und äußerte sich diesmal auch recht zufrieden über den Verlauf des Gesprächs. Allerdings gab es eine tragikomische Schwierigkeit: Er hatte meine Arbeit nicht ganz entziffern können, weil die Tinte für seine schwachen Augen zu blaß war. Eine ältere Kollegin (studierende Lehrerin) gab mir den guten Rat, Lehmann aufzusuchen und zu fragen, ob ich die Arbeit noch einmal in Maschinenschrift abliefern dürfte. So machte ich mich auf den Weg nach der Bürgerstraße, wo er ein eigenes Haus bewohnte, ein älteres Haus, von einem Garten umgeben. Ich wurde in den Oberstock geführt. Schon der Vorplatz vor seinem Studierzimmer war bis zur Decke hinauf mit Bücherregalen umstellt. Lehmann empfing mich sehr gütig. Nein, es sei nicht nötig, die Arbeit abschreiben zu lassen. Er wüßte ja jetzt durch die Besprechung genau Bescheid und sei sehr befriedigt. Überhaupt die Damen! Was würde aus seinem Seminar, wenn er die Damen nicht hätte, die so fleißig und so tüchtig arbeiteten! Das schien mir nun etwas übertrieben, und ich fühlte mich verpflichtet, für meine männlichen Kollegen einzutreten: es gebe doch auch Herren, die etwas leisteten. Er war etwas erstaunt über diese Erwiderung, stimmte mir aber zu. »O ja, einzelne wohl. Ihr Partner z.B. hat ja auch eine gute Arbeit geliefert.« Nun aber kam eine große Überraschung. Lehmann eröffnete mir, da die Arbeit so gut ausgefallen sei, wolle er sie gern als Staatsexamensarbeit annehmen. Einige kleine Ergänzungen könnte ich noch anbringen. Das war keine ungewöhnliche Auszeichnung; Lehmann pflegte gute Seminararbeiten als Examensarbeiten einreichen zu lassen. Aber ich wußte nichts davon, da ich mich bisher um den Göttinger Examensbetrieb kein bißchen gekümmert hatte. Einmal hatte ich das Staatsexamen als etwas sehr Fernliegendes betrachtet, da ich immer die Absicht hatte, zuerst den Doktor zu machen. Und außerdem war ich ja nur für diesen Sommer nach Göttingen gekommen und rechnete mit einem Staatsexamen in Breslau. Freilich, je näher das Semesterende kam, desto unmöglicher war mir der Gedanke, daß ich nun fortgehen und nicht wiederkommen sollte. Diese Monate, die hinter mir lagen, waren doch keine Episode, sondern der Anfang eines neuen Lebensabschnitts. Nun kam mir Hilfe von einer Seite, von der ich sie nicht im mindesten erwartet hatte. Eine fertige Staatsexamensarbeit konnte man doch nicht ungenützt lassen! Das würde auch meinen Leuten daheim einleuchten. Ich glaube, daß schon auf dem Heimweg von diesem folgenreichen Besuch mein Plan fertig wurde. Ich mußte nun vor allem mein Verhältnis zu Professor Stern in Ordnung bringen. Er bekam einen Bericht über den Verlauf dieses Semesters: An meiner psychologischen Arbeit hätte ich nichts getan, dagegen mich ganz in die Phänomenologie eingelebt; nun sei es mein dringender Wunsch, weiter bei Husserl zu arbeiten. Es kam eine sehr gütige Antwort: Wenn ich diesen Wunsch hätte, so könne man mir nur raten, bei Husserl den Doktor zu machen. Auch bei meinen Angehörigen stieß ich auf keinen Widerstand. Nun kam der größte Schritt: Ich ging zu Husserl und bat ihn um eine Doktorarbeit. »Sind Sie denn schon so weit?«, fragte er überrascht. Er war gewöhnt, daß man jahrelang bei ihm hörte, ehe man sich an eine selbständige Arbeit heranwagte. Immerhin wies er mich nicht zurück. Er stellte mir nur alle Schwierigkeiten vor Augen. Seine Ansprüche an eine Doktorarbeit seien sehr hoch; er rechne, daß man drei Jahre dafür brauche. Wenn ich die Absicht hätte, Staatsexamen zu machen, dann würde er mir dringend raten, dies erst zu tun, sonst käme ich zu sehr aus meinen andern Fächern heraus. Und er selbst lege großen Wert darauf, daß man in einer Spezialwissenschaft etwas Tüchtiges leiste. Es tauge nichts, nur Philosophie zu treiben, als solide Grundlage brauche man gründliche Vertrautheit mit den Methoden der andern Wissenschaften. Das stieß zwar alle meine bisherigen Pläne um und machte mir das Herz etwas schwer; aber ich ließ mich durch nichts abschrecken, sondern wollte auf jede Bedingung eingehen. Nun wurde der Meister etwas entgegenkommender. Er hätte nichts dagegen, wenn ich mein Thema jetzt schon wählte und anfinge, daran zu arbeiten. Wenn ich dann mit meiner Vorbereitung zum Staatsexamen weit genug wäre, wolle er mir die Aufgabe für die Staatsarbeit so stellen, daß ich sie nachher zur Doktorarbeit ausbauen könnte. Nun war also die Frage, worüber ich denn arbeiten wolle. Darum war ich nicht in Verlegenheit. In seinem Kolleg über Natur und Geist hatte Husserl davon gesprochen, daß eine objektive Außenwelt nur intersubjektiv erfahren werden könne, d.h. durch eine Mehrheit erkennender Individuen, die in Wechselverständigung miteinander stünden. Demnach sei eine Erfahrung von anderen Individuen dafür vorausgesetzt. Husserl nannte diese Erfahrung im Anschluß an die Arbeiten von Theodor Lipps Einfühlung, aber er sprach sich nicht darüber aus, worin sie bestünde.

      Da war also eine Lücke, die es auszufüllen galt: Ich wollte untersuchen, was Einfühlung sei. Das gefiel dem Meister nicht übel. Allerdings bekam ich nun gleich eine neue bittere Pille zu schlucken: Er verlangte, daß ich die Arbeit als Auseinandersetzung mit Theodor Lipps durchführe. Er wollte nämlich gern, daß seine Schüler in ihren Arbeiten das Verhältnis der Phänomenologie zu den andern bedeutenden philosophischen Richtungen der Zeit klarstellten. Ihm selbst lag das wenig. Er war zu sehr von seinen eigenen Gedanken erfüllt, um sich für die Auseinandersetzung mit anderen Zeit zu nehmen. Aber auch bei uns stieß er mit dieser Forderung auf wenig Gegenliebe. Er pflegte lächelnd zu sagen: »Ich erziehe meine Schüler zu systematischen Philosophen, und dann wundere ich mich, daß sie keine philosophiegeschichtlichen Arbeiten machen mögen.« Fürs Erste aber war er unerbittlich. Ich mußte in den sauren Apfel beißen, d.h. daran gehen, die lange Reihe der Werke von Theodor Lipps durchzustudieren.

      Das war nun wieder ein folgenschwerer Besuch. Ganz neue Pläne mußten gemacht werden. Aber ich war auch damit schnell fertig. Wenn ich das Staatsexamen vor dem Doktor machen sollte, dann wollte ich es mir so bald wie irgend möglich vom Hals schaffen. Ich hatte jetzt fünf Semester hinter mir. Damit durfte ich mich noch nicht zur Prüfung melden. Die vorgeschriebene Mindestzahl war sechs. Aber sie stammte aus alter Zeit, als noch nicht so viel Stoff zu bewältigen war. Jetzt nahmen sich die meisten Leute 8–10 Semester Zeit. Davon konnte bei mir keine Rede sein. Mein Entschluß war gefaßt: Im kommenden Winter müßte der Entwurf der Einfühlungsarbeit fertig werden und ich müßte mit der Vorbereitung zur mündlichen Prüfung so weit kommen, daß ich mich am Ende des Semesters zur Prüfung melden könnte.

      Das war das Ergebnis meines ersten Sommers in Göttingen. Anfang August reiste ich für die Ferien nach Hause. Ich weiß nicht mehr, ob ich diese Fahrt mit Rose gemeinsam machte. Für sie war es der endgültige Abschied von Göttingen. Wir gaben unsere Wohnung auf, weil sie für mich allein zu kostspielig war. Ich wollte mir im Herbst ein neues Quartier suchen.

      2.

      Anfang August reiste ich für die großen Ferien nach Hause. Der Sommer 1913 war für Breslau eine große Zeit: die Jahrhundertfeier der Befreiungskriege. Man hatte sich darum auch gewundert, daß ich gerade dies Semester außerhalb verbrachte. Manches von den Festlichkeiten hatte ich schon versäumt; vor allem das Festspiel, das Gerhart Hauptmann für diesen Zweck geschrieben hatte und das in der ebenfalls eigens neu erbauten »Jahrhunderthalle«, einem Kuppelbau aus Beton und Eisen, damals dem größten der Welt, aufgeführt wurde. Ich hatte die Dichtung in Göttingen gelesen, und die Lösung war mir genial erschienen: Die denkwürdigen Begebenheiten – Preußens Größe, Fall und Erhebung, Napoleons glänzender Aufstieg und sein Sturz – waren mit einem kecken Griff erfaßt, indem sie als ein Puppenspiel dargestellt wurden, wie sie sich, von oben gesehen, ausnehmen mochten. Diese Auffassung hatte aber allerhöchsten Orts Anstoß erregt. Es war ja in Berlin alte Tradition, daß kein Hohenzoller auf die Bühne gebracht werden durfte. Sie nun gar als Puppen auftreten zu lassen, das erschien als offene Majestätsbeleidigung. Der deutsche Kronprinz legte sein Protektorat über die Jahrhundertfeier nieder; um ihn und den Kaiser zu versöhnen, verzichtete die Festleitung auf weitere