Nach dem Mittagessen wurde ich zu Bett gebracht, die beiden Medizinerinnen legten einen kunstgerechten Verband an und lagerten den Fuß hoch. Dann gingen Rose und Lilli etwas spazieren; Erna setzte sich zu mir auf den Bettrand und las mir aus Goethes Briefen vor. Nach einiger Zeit kamen die beiden andern sehr frisch und vergnügt zurück. Rose holte eine dicke Tafel Lindt-Chokolade, die sie aus Gräfenberg für uns mitgebracht hatte. Das Kleeblatt machte sich darüber her, und mit diesem Schmaus wurde die Versöhnung vollzogen, ohne daß noch ein Wort über das Vergangene gesprochen wurde. Wie der Frieden diesmal mit Hans geschlossen wurde, daran erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls hat es nicht lange gedauert, bis die Freundschaft wiederhergestellt war. Wir waren immer schnell bereit zu gütlicher Einigung. Aber solche Vorfälle machten uns doch sehr nachdenklich und besorgt um das Los, das Erna erwartete.
Wir vier hatten bei diesen Gebirgsaufenthalten zwei Zimmer mit zwei Betten; Erna und Lilli bewohnten das eine, Rose und ich das andere. In Grunwald lag das Zimmer des Herrn Bürgermeisters zwischen den unsern, und er konnte durch die Wände hören, wie auf der einen Seite medizinische Lehrstücke gemeinsam durchgearbeitet wurden, auf der andern Seite die Grundfragen der Mathematik und theoretischen Physik behandelt. Wir wechselten aber auch manchmal die Kombinationen, damit jede mit jeder sich einmal gründlich aussprechen konnte; denn dafür waren die stillen Abendstunden am geeignetsten, und der Gedankenaustausch ging meist bis tief in die Nacht hinein. Ich weiß nicht mehr im einzelnen, was wir uns in diesen vielen und ausgedehnten Gesprächen zu sagen hatten. Jedenfalls ging uns der Stoff niemals aus, und wir kannten nichts Schöneres als so die Herzen zu öffnen. Meist handelte es sich um die Geschicke des Kleeblatts und der Menschen, die ihm nahestanden, um Zukunftspläne, die Gestaltung unseres eigenen Lebens und die Ideale, denen wir durch unser Wirken in der Welt zum Siege verhelfen wollten.
3.
Der Winter 1912/13 brachte noch die gemeinsame Rodelfahrt nach Schreiberhau. Im Sommersemester 1913 aber trennte sich das Kleeblatt, da Rose und ich Breslau verließen. Für die Klarheit der Darstellung wird es vielleicht gut sein, wenn ich meinen eigenen Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt nachtrage, ehe ich Ernas weitere Schicksale erzähle. Ich habe berichtet, wie ich meinen Kinderglauben verlor und etwa um dieselbe Zeit anfing, mich als »selbständiger Mensch« aller Leitung durch Mutter und Geschwister zu entziehen. Mit 14 Ý Jahren hatte ich die 9-klassige Höhere Mädchenschule durchlaufen. Das war zu Ostern 1906. Aber gerade zu diesem Zeitpunkt wurde die bisher wahlfreie »Selecta«, in die immer nur wenige Schülerinnen übergegangen waren, zur 10.Klasse erklärt, und an ihren Besuch wurden bestimmte Berechtigungen geknüpft. Als der Direktor den Brief bekam, in dem ich von der Schule abgemeldet wurde, war er ganz aufgeregt und legte mir alle Gründe vor, die es ratsam erscheinen ließen, noch ein Jahr zu bleiben. Aber ich ließ mich nicht umstimmen.
Ebenso entschieden hatte ich es zwei Jahre früher abgelehnt, ins Gymnasium überzugehen. Damals wurden die bisher 4-jährigen Realgymnasialkurse, die sich an unsere 9.Klasse anschlossen, in eine 6-jährige realgymnasiale Studienanstalt umgewandelt, die sich nach dem 7.Schuljahr abspaltete. Unsern Jahrgang traf es so, daß wir in die 4-jährigen Kurse nicht mehr aufgenommen werden konnten, in die 6-jährige Anstalt nur mit einem Jahr Zeitverlust. Das hatte mich wohl etwas abgeschreckt. Aber ich glaube, das eigentlich Ausschlaggebende war damals und jetzt ein gesunder Instinkt, der mir sagte, daß ich nun lange genug auf der Schulbank gesessen hätte und mal etwas anderes brauchte. Gerade im 7.Schuljahr hatten meine Leistungen etwas nachgelassen. Ich behauptete immer noch einen der ersten Plätze, aber es kam doch manchmal vor, daß ich versagte. Z.T. lag das wohl daran, daß mich mancherlei Fragen, vor allem weltanschauliche, zu beschäftigen begannen, von denen in der Schule wenig die Rede war. Hauptsächlich ist es aber wohl durch die körperliche Entwicklung zu erklären, die sich vorbereitete. Meine Mutter setzte meinem entschiedenen Willen keinen Widerstand entgegen. »Ich werde dich nicht zwingen«, sagte sie; »ich habe dich in die Schule eintreten lassen, als du es wolltest; du magst auch fortgehen, wenn du es jetzt willst.« So verließ ich die Schule und fuhr einige Wochen später nach Hamburg zu jenem ausgedehnten Aufenthalt, von dem ich früher berichtete.
Nicht lange, ehe ich die Schule verließ, riß der Tod zum zweitenmal eine Lücke in den Geschwisterkreis meiner Mutter. Ihre zweitälteste Schwester, Cilla Burchard, starb nach einem langen, qualvollen Krebsleiden und einer schweren Operation, die das Ende nur um kurze Zeit verzögerte. Wir erlebten alle Stadien dieser Krankheit mit, denn mit der Familie Burchard verbanden uns besonders nahe Beziehungen. Der Onkel war der treue Freund meiner Mutter, der ihr im Geschäft beistand, so gut er konnte. In der Jugend hatte sie ihn im elterlichen Geschäft angelernt. Er war auch jetzt kein selbständiger Kaufmann und schaute zu der Nichte, die nun seine Schwägerin war (ich erwähnte früher, daß er der Bruder meiner Großmutter war), mit Bewunderung auf. Er führte ihr eine Zeitlang die Bücher. Als das nicht mehr nötig war, kam er noch ziemlich regelmäßig jeden Tag einmal nachfragen, ob er einen geschäftlichen Gang besorgen könne. Meine Mutter hegte für ihn eine dankbare Zuneigung und trat stets für ihn ein. Im eigenen Hause war er nämlich wenig angesehen. Meine Tante Cilla war ein herber, verschlossener Charakter. Sie war überaus freigebig und liebte es, als Hausfrau aus dem Vollen zu wirtschaften. Es verletzte ihren Stolz, daß ihr Mann nicht imstande war zu verdienen, was sie brauchte, daß die Eltern manchmal nachhelfen mußten, und daß ihre geliebten Töchter schon früh zum Mitverdienen genötigt waren. Fritz, der einzige Sohn, studierte Medizin. Von ihm war zunächst keine Hilfe zu erwarten. Es war in jener Zeit durchaus üblich, daß die Schwestern angestrengt arbeiteten, um ihren Brüdern das Studium zu ermöglichen. Martha, die ältere Tochter, war nur wenig älter als meine Schwester Else und ihre treueste Freundin. Solange Else zu Hause war, erschien Martha jeden Abend bei uns, und wir alle sahen sie wie eine Schwester an. Sie machte das Lehrerinnenexamen, fand aber dann Anstellung als Beamte an der Landesversicherungsanstalt in Breslau und war hier mehrere Jahrzehnte mit großer Gewissenhaftigkeit tätig, bis sie pensioniert wurde. Sie war still und verschlossen wie ihre Mutter; beide Töchter hatten auch ihre Freigebigkeit und unbegrenzte Gastfreundlichkeit geerbt. Nur war Martha nicht herb und kurz angebunden wie die Tante, sondern freundlich und zuvorkommend im Verkehr. Meine Mutter konnte es nie begreifen, daß diese Menschen, die allen Fremden gegenüber liebenswürdig und hilfsbereit waren, für den eigenen guten Vater kein freundliches Wort übrighatten. Als sie Martha das einmal unter vier Augen vorhielt, bekam sie eine schroff abweisende Antwort, aus der hervorging, daß sie ihrem Vater eine Ehrlosigkeit vorwarf. Worin diese bestanden haben sollte, wußte niemand von uns. Meine Mutter war überzeugt, daß eine völlig irrige Auffassung bei meiner Tante vorhanden gewesen sein müsse und sich ihren Töchtern mitgeteilt habe. Adelheid, die Jüngste – Heidel genannt –, wurde von ihrer Mutter am meisten verwöhnt. Im Gegensatz zu den sehr ruhigen Geschwistern war sie übergesprächig und laut, in ihrem ganzen Wesen etwas hemmungslos, aber in ihren kaufmännischen Stellungen tüchtig und gewissenhaft, auch im Haushalt recht geschickt, als sie während der Krankheit der Mutter und nach ihrem Tode dazu herangezogen wurde. In diesem Hause haben Erna und ich oft die Vormittage verbracht, ehe wir zur Schule gingen. Unsere Mutter durfte uns jederzeit hinschicken, wenn sie uns gut aufgehoben wissen wollte.
Die Tante ließ uns machen, was wir wollten. Nur wenn wir nicht wußten, was wir anfangen sollten, beschäftigte sie uns. So habe ich hier zum erstenmal einen Strumpf zum Stopfen in die Hand bekommen. Die Tante zeigte mir, wie es gemacht werden müßte, und überließ mich dann mir selbst. Ich war damals vielleicht fünf Jahre alt. Ich saß auf dem hohen Stuhl und vertiefte mich mit großem Eifer und strenger Amtsmiene in das überaus schwierige Geschäft. Ganz empört war ich, als der große Vetter – er war etwa 20 Jahre älter als ich – hinzukam und sich stellte, als wollte er mir die Arbeit wegreißen. Ich sprang schnell vom Stuhl herunter und wurde ein paarmal um den Tisch herumgejagt, bis die Tante mir mit ein paar energischen Worten zu Hilfe kam. Fritz liebte es, mich zu necken. Er war wortkarg wie seine Mutter und hatte wie sie einen trockenen Humor, der bei ihm aber noch