Gesammelte Werke: Philosophische Werke, Religiöse Essays & Autobiografische Schriften. Edith Stein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edith Stein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788075830890
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hatte blonde Stehhaare und eine etwas aufgestülpte Nase und sprach mit stark schlesischem Anklang, wie es in den »besseren« Kreisen bei uns durchaus nicht üblich ist. Der Unterschied der Abstammung und des Standes sprang auf den ersten Blick hervor, wurde aber auf beiden Seiten keineswegs als störend empfunden. Seine hervorragende mathematische Begabung sicherte ihm die Achtung der Kommilitonen. Er war hell und geweckt, humorvoll und fröhlich wie ein Kind; in unserm Kreis bewegte er sich mit der größten Ungezwungenheit, auch in Gegenwart der Mütter. Den Höhepunkt unserer geselligen Zusammenkünfte bildete der Sylvesterabend, den die vier Familien jahrelang zusammen feierten. Er wurde als »Picknick« gestaltet, d.h. alle trugen etwas zur Bewirtung und Unterhaltung bei. Diese gemeinsame Sylvesterfeier war bei Guttmanns und Plataus schon eingeführt, ehe wir sie kennenlernten; als wir hinzukamen, wurde sie in unser Haus verlegt, weil wir die größten und schönsten Räume hatten. Frau Guttmann verstand es vorzüglich, so etwas zu arrangieren. Sie konnte Knittelverse dichten, im Plakatstil malen und kleine Aufführungen einstudieren. Für Tafellieder und Bierzeitung sorgten besonders Hans Biberstein und ich. So mußte jeder der Anwesenden darauf gefaßt sein, an diesem Abend tüchtig hergenommen zu werden, und die Ereignisse des abgelaufenen Jahres zogen noch einmal in heiteren Bildern an uns vorbei.

      Unsere größte Freude im Sommer war seit früher Kindheit ein Familienausflug ins Freie. Meine Mutter mietete dafür einen großen Wagen, und dann ging es an einem Sonntag früh hinaus in den Wald; Proviant wurde mitgenommen, so daß man im Waldlager zu Mittag essen konnte. Es war immer dafür gesorgt, daß außer für den engsten Familienkreis noch für eine Reihe von Gästen Platz war. Früher waren das unsere Vettern und Cousinen, jetzt wurden die befreundeten Familien eingeladen. Wenn wir abends heimkamen, stiegen alle bei uns ab; man reinigte sich von dem Staub des Tages, und dann gab es ein einfaches Abendessen. Meine Mutter ließ nicht gern einen Gast unbewirtet aus dem Hause gehen, aber sie liebte es auch nicht, »viel herzumachen«; es sollten sich alle zu Hause fühlen und nicht den unbehaglichen Eindruck haben, als würde nun ihretwegen alles auf den Kopf gestellt. Die ungeladenen Gäste waren auch nicht anspruchsvoll, sondern ließen sich Tee oder Milch, Butterbrot und Obst gut schmecken. Am meisten Anklang fand stets das kräftige Roggenbrot, das meine Mutter nach oberschlesischer Sitte immer noch selbst buk.

      In den Sommerferien 1911 und 1912, als wir alle in Breslau studierten, ging das vierblättrige Kleeblatt auch zusammen für einige Wochen ins schlesische Gebirge. Das erstemal wählten wir Groß-Aupa als Hauptquartier, ein langgezogenes Dorf auf der böhmischen Seite des Riesengebirges. Es lag weit von der Bahnstrecke entfernt, von Johannesbad führte ein Postauto hin. Außer uns waren, wenn ich mich recht erinnere, gar keine Sommergäste da; wir beherrschten das ganze Dorf. Wenn wir abends bei Mondlicht die Dorfstraße entlanggingen und mit kräftiger Stimme unsere Studentenlieder sangen, horchten in allen Häusern die Leute auf. Einmal wurden wir sogar von den Honoratioren des Ortes gebeten, abends ins Gasthaus zu kommen, wo sie am Stammtisch saßen, und ihnen dort vorzusingen. Wir nahmen die Einladung unbedenklich an, unsere harmlose Fröhlichkeit war für die biederen Leute in diesem stillen Erdenwinkel eine ungewöhnliche Abwechslung.

      Auch auf dieser Reise waren wir nicht allein. Frau Guttmann und ihre unverheiratete Schwester, die an Basedow litt, hatten sich angeschlossen. Wir wohnten im Haus eines Bäckers und hatten für sehr wenig Geld mehrere Zimmer zur Verfügung. Die beiden Damen kochten selbst, wir andern aßen mittags im Gasthaus, für ein einfaches Frühstück und Abendessen sorgten wir auch selbst. Für einen Teil der Zeit schickte unsere Mutter Frieda zu uns. Es war nicht lange nach der Trennung von ihrem Mann; sie war noch recht bedrückt von dem, was hinter ihr lag, und sollte etwas Ablenkung und Erholung haben. Dazu kamen noch andere Gäste, die uns für kürzer oder länger aufsuchten. Eine Schulgefährtin von Lilli und Rose wurde uns von den besorgten Eltern anvertraut, weil sie von unserer Gesellschaft einen günstigen Einfluß erhofften. Es war ein liebes, stilles Mädchen, das damals anfing, einige Sonderbarkeiten im Verhalten zu zeigen: die ersten Vorboten einer dementia praecox, die nicht lange danach zum Ausbruch kam. Eine sehr muntere Gefährtin war dagegen Lotte Baerthold aus Sagan. Sie hatte mit Erna zusammen das Gymnasium besucht. In diesen Jahren war sie in Breslau in Pension und war fast täglich bei uns, um mit Erna zu arbeiten. Dafür mußte meine Schwester einmal in den Ferien Gast in ihrem Elternhause sein. Ihr Vater hatte in Sagan eine Tuchfabrik; er war ein begeisterter Politiker, echter alter Liberaler, lange Zeit hindurch Stadtverordneter. Die Mutter war eine gütige, liebenswürdige Frau von mädchenhafter Anmut. Lotte war die einzige Tochter, sie hatte nur einen älteren und einen jüngeren Bruder. Sie wurde vorzüglich erzogen, hatte tadellose Umgangsformen, wie sie in guten protestantischen Familien besonders gepflegt werden, war dabei aber einfach und natürlich geblieben, lebhaft und fröhlich. Mit ungezwungener Herzlichkeit schloß sie sich an uns an; auch diese freundschaftlichen Beziehungen blieben durchs ganze Leben erhalten. Da die Eltern öfters in Breslau zu tun hatten, lernten wir auch sie allmählich kennen; und ich bin später oft in ihrem behaglichen, gastlichen Hause eingekehrt, wenn ich auf dem Heimweg nach Breslau nach langer Bahnfahrt in Sagan Aufenthalt hatte. Lotte entschloß sich nach dem Abitur für das Studium der neuen Sprachen. Sie studierte ein Semester in Berlin und eins in Paris; auf der Fahrt dorthin war ihr ein Mitreisender, ein junger Ingenieur, behilflich. Er suchte sie dann in Paris auf und kam öfters mit ihr zusammen. Als sie am Ende des Semesters nach Hause zurückkehrte, reiste er ihr nach und hielt bei den Eltern um ihre Hand an. Im Sommer 1911 stand sie vor der Hochzeit und sollte sich von den Anstrengungen der Brautzeit noch etwas erholen. Dazu kam sie zu uns nach Groß-Aupa. Andere Bekannte, die ihre Ferien im Gebirge verbrachten, suchten uns gelegentlich für einen Tag oder ein paar Stunden auf. Eine lustige Medizinerin, die uns besuchen wollte, fragte auf der Dorfstraße, in welchem Haus die vielen Fräulein wohnten, und wurde sofort zu uns gewiesen. Unser Häuschen lag unmittelbar an dem schmalen Aupaflüßchen. Durch die Hintertür kam man dicht ans Wasser. Am andern Ufer war ein grasbedeckter Abhang; wenn wir uns dort lagern wollten, mußten wir auf den flachen Steinen hinüberbalancieren. Das war morgens gewöhnlich unsere erste Übung. Frau Guttmann begleitete dieses Manöver oft mit kleinen Angstrufen um ihre Kissen und Decken, die wir mit hinübernahmen. Ehrensache war es auch, täglich einmal den steilen Abhang hinaufzuklettern. Dieser Prüfung mußten sich auch unsere Gäste unterziehen. Um bequem liegen zu können, hatten wir alle unsere Ferienfrisuren. Ich trug Schnecken über den Ohren. Die drei andern, die lange und schwere Zöpfe hatten, schlangen sie nicht zur Gretchenfrisur um den ganzen Kopf, sondern vorn über der Stirn mehrmals hin und her, um den Nacken frei zu behalten. Wir hatten uns für die Ferienwochen ausreichend mit Büchern versehen, und jede vertiefte sich in das ihre, während wir draußen lagen. Ich erinnere mich, daß Rose Nietzsches Zarathustra mithatte. Manchmal unterbrach sie sich und rief mich zu Hilfe: »Küken, du bist doch so gescheit. Kannst du mir nicht sagen, was das bedeutet?« »Küken« nannten sie mich, weil ich die Jüngste im Kleeblatt war. Außerdem sah ich so jung aus, daß Frau Guttmann öfters sagte, wenn wir wieder nach Breslau kämen, würde sie mich für die Schule anmelden. Ich stand damals am Ende meines ersten Semesters und hatte als Ferienlektüre Spinozas Ethik mitgenommen. Ich trennte mich niemals von dem kleinen Büchlein. Wenn wir in den Wald hinausgingen, trug ich es in der Tasche meines regendichten Wettercapes; und während die andern sich unter den Bäumen lagerten, suchte ich mir in ihrer Nähe eine Hirschkanzel und kletterte ganz oben hinauf; dort ließ ich mich nieder und vertiefte mich abwechselnd in die Deduktionen über die eine Substanz und in den Ausblick auf Himmel, Berge und Wälder.

      Einmal durfte uns auch Hans Biberstein von Bad Reinerz aus besuchen. Seine Mutter gab ihm einige Tage Urlaub für einen größeren Ausflug. Er holte uns ab, und wir besuchten zusammen die Felsenstadt von AdersbachWeckelsdorf. Im nächsten Jahr war die Rücksicht auf ihn schon so beherrschend, daß wir als Ferienaufenthalt einen Ort in der Nähe von Reinerz wählten: Grunwald an der hohen Mense, das höchstgelegene Dorf in Preussen. Erna und ich kannten es schon aus unserer Kinderzeit; wir hatten einmal mit unserer Schwester Else und unserer Schwägerin Trude eine Ferienreise dorthin gemacht; das war das erstemal, daß ich richtige Berge zu sehen bekam. Wir hatten aber diesen Aufenthalt in wenig angenehmer Erinnerung, denn die beiden unternehmungslustigen jungen Damen hatten damals die beiden Kinder einigemal bei sehr schmaler Kost den ganzen Tag sich selbst überlassen. Wir wohnten im Lehrerhaus, und es geschah uns nichts Schlimmes. Aber wir bekamen es doch schließlich satt, Blaubeeren zu suchen und Honigbrote zu essen, die von einer Mahlzeit zur andern immer trockener wurden, und die Tage