Meine Mutter mußte sich oft wie ein ungeschickter Dienstbote abkanzeln lassen, als ob sie nie selbst einen Haushalt geführt hätte. Und sie hatte doch im Elternhaus für die vielköpfige Familie und zahlreiche Gäste zur Zufriedenheit aller gekocht, und ihren Kindern war niemals wohler, als wenn die Mutter selbst für sie sorgte. Freilich hatte sie seit dem Tode unseres Vaters den Haushalt aus der Hand geben müssen, und es war ihr nun manches ungewohnt. Aber sie übernahm Sonntags gern noch alle Arbeit, weil es sie freute, wenn wir Schwestern einmal alle zusammen einen Morgenausflug machen konnten; dann bereitete sie in aller Ruhe alles für unsere Rückkehr vor und trug uns mit der größten Liebe und Freude die selbstbereiteten Speisen auf. Wenn ich mir in unseren Studienjahren ganz im stillen einen idealen Haushalt dachte, war es einer, in dem meine Mutter mit Erna und mir allein lebte und für uns beide sorgte.
Die täglichen Störungen des häuslichen Friedens zehrten an allen; es kamen aber tiefergehende Unstimmigkeiten hinzu. Meine Mutter wünschte die Familie möglichst zusammenzuhalten, alle sollten alle Freuden und Leiden gemeinsam haben; besonders aber sollten die Pärchen, die die Alterszusammengehörigkeit gebildet hatte, nicht auseinandergerissen werden. Bei Erna und mir machte das keine Schwierigkeiten, wir schlossen uns ohnehin in der gemeinsamen Studienzeit noch inniger zusammen, als es in der Kindheit der Fall gewesen war. Es war uns nur manchmal lästig, wenn die viel älteren Schwestern bei unseren Zusammenkünften mit unsern Freunden und Freundinnen dabei sein sollten, weil es ihnen an eigenem Verkehr mangelte. Größere Schwierigkeiten gab es zwischen Frieda und Rosa, die im Temperament so verschieden waren und bei denen zu den Banden des Blutes keine starke geistige Gemeinsamkeit kam. Zudem äußerte sich Rosas unbefriedigtes Selbständigkeitsbedürfnis darin, daß sie etwas Eigenes für sich haben wollte. Sie begann sich dagegen aufzulehnen, daß sie »mit Frieda zusammengespannt« würde. Sie wollte nicht mehr mit ihr gleich gekleidet gehen, sie wollte ihr eigenes Zimmer haben und es nach eigenem Geschmack einrichten, sie wollte auch Menschen haben, mit denen sie allein verkehrte. Alle diese an sich so begreiflichen kleinen Wünsche – mir wurden solche Zugeständnisse mit der größten Selbstverständlichkeit gemacht, ohne daß ich ein Wort darüber zu verlieren brauchte – erregten Anstoß, weil sie sie in schroffen Worten äußerte.
Außerdem war meine Mutter seit Friedas Ehescheidung besonders darauf bedacht, sie vor Kränkungen zu schützen, und darum waren ihr Rosas Absonderungsbestrebungen, die sich ja vornehmlich gegen diese Schwester richteten, überaus schmerzlich. Dazu kam noch der nicht ganz unbegründete Verdacht, daß in den freundschaftlichen Aussprachen mit Außenstehenden über Mutter und Schwester und die Schwierigkeiten des häuslichen Lebens geklagt würde. Es ist öfters vorgekommen, daß Frauen, die ursprünglich mit mir befreundet waren, sich in meiner Abwesenheit um Rosa annahmen und in herzliche Verbindung mit ihr kamen. Wenn ich gelegentlich von ihnen hörte, welches Bild sie aus ihren Schilderungen von unserem häuslichen Leben bekommen hatten, dann mußte ich bei aller Anerkennung von Rosas täglichen Opfern doch manche Berichtigungen anbringen. Sie wollte natürlich nur die Wahrheit sagen; aber sie sprach bloß von dem, was sie litt; und es kam ihr nicht in den Sinn, auch zu sagen, worunter die andern zu leiden hatten. Diese Freundinnen waren begeistert von ihrer Herzensgüte, ihrer zarten Aufmerksamkeit. Sie war im Verkehr mit ihnen – ganz ungeheuchelt – so sanft und bescheiden, daß sie sich von ihrem ganz anders gearteten Verhalten im Familienkreis gar keine Vorstellung machen konnten.
Meine Mutter wünschte oft, daß sie nur einen kleinen Teil der Liebenswürdigkeit, mit der sie Fremden begegnete, für die eigenen Angehörigen übrig hätte. Nur eine große Verschlossenheit und eine gewisse Enge und Starrheit des Urteils erschwerte auch den Freundinnen den Verkehr. Die Besorgnis, auf Widerspruch und schroffe Abwehr zu stoßen, brachte meine Mutter so weit, daß sie sich schließlich fürchtete, ihre Wünsche im eigenen Hause zu äußern. In späteren Jahren kam sie mit dringenden Anliegen zu mir, damit ich sie bei Rosa vorbringen solle: »Du mußt ihr das sagen, mir würde sie nur widersprechen.« Ich hatte nämlich, als ich herangereift war, einen immer stärkeren Einfluß auf meine Schwester gewonnen, ohne mich im mindesten darum zu bemühen. Ich will nur einen solchen Fall erzählen: Als die Silberhochzeit unseres ältesten Bruders herannahte, hatte meine Mutter den dringenden Wunsch, sie in unserem Hause zu feiern, weil wir die schönsten Festräume hatten, während die beschränkte und mit altem Hausrat vollgestopfte Mietswohnung des Silberpaares keineswegs für eine solche Feier geeignet war. Sie wußte wohl, welche Arbeit und Mühe Rosa damit auf sich nehmen müßte, und vor den Verhandlungen mit der Schwiegertochter graute ihr selbst am meisten, weil sie deren Art so schlecht ertragen konnte. Aber sie hielt es für eine Pflicht der Liebe und Gerechtigkeit gegen ihren ältesten Sohn. Ich konnte ihr das gut nachfühlen und wußte es auch meiner Schwester begreiflich zu machen. Die Einwände waren ihr vom Gesicht abzulesen, aber sie sprach sie nicht aus und fügte sich ohne weiteres. Der Vorschlag wurde gemacht und mit großer Dankbarkeit angenommen. Ich konnte der Feier selbst nicht beiwohnen, weil ich beruflich ferngehalten wurde. Nach den Berichten muß sie schön und friedlich verlaufen sein. Wie es kam, daß meine so viel ältere Schwester sich von mir so willig leiten ließ und daß ihr Weg schließlich in meinen mündete, das muß ich später im Zusammenhang berichten.
IV. Vom Werdegang der beiden Jüngsten
1.
Wenn ich uns sieben Geschwister an meinem Geist vorüberziehen lasse, dann muß ich sagen, daß Erna von uns allen die glücklichsten Anlagen hatte: schön, offen und mitteilsam, von großer Herzensreinheit und -güte, überaus bescheiden und ihrer eigenen Vorzüge unbewußt, gut begabt, geschickt und anpassungsfähig – so war sie wie geschaffen, um glücklich zu sein und glücklich zu machen. Natürlich hatte auch sie ihre Fehler, und sie wurden im Familienkreis nicht übersehen: das leichte Aufbrausen, die allzu große Beeinflußbarkeit und eine gewisse Passivität. Aber diese Fehler waren von der Art, die man leicht erträgt und verzeiht. Wenn auch durch dieses Kind der Mutter schwerer Kummer erwuchs, so geschah es nicht durch Härten und Kanten, sondern durch eine schwere Last, die das Leben ihr auferlegte und an der die Liebe der Angehörigen mittrug.
Ich habe früher von unserer gemeinsamen Kinder- und Jugendzeit gesprochen und von Ernas Berufswahl. Die zehn Monate, die ich in Hamburg verbrachte, waren unsere erste längere Trennung. Sie wurde aber dadurch abgekürzt, daß Erna für die Sommerferien auch nach Hamburg kam. Nach meiner Rückkehr bewohnten wir wieder ein gemeinsames Zimmer. Und als ich ein Jahr darauf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden hatte, sagte sie: »Gott sei Dank; nun brauche ich nicht mehr allein den Schulweg zu machen!« Ein Jahr lang sind wir dann noch wie in unseren Kinderjahren miteinander jeden Morgen über die Oderbrücken zum Ritterplatz gepilgert. Unterwegs sagte sie mir gern ihre Schulaufgaben her. Auch bei der Vorbereitung zum Abitur mußte ich ihr helfen. Ich suchte in die Eintönigkeit des gedächtnismäßigen Einpaukens etwas Abwechslung zu bringen, indem ich mir die verschiedensten Aufgaben für meinen Prüfling ausdachte. Z.B. verlangte ich auf Fragen aus der englischen und französischen