5. Das Pflanzliche im Menschen: Unterschiede darin
Wenn es uns gelungen ist, wenigstens in einigen Umrissen das Eigentümliche des pflanzlichen Seins festzuhalten, so ist es nun die nächste Aufgabe, im Menschen aufzusuchen, was er vom pflanzlichen Sein in sich bewahrt hat. Ich möchte an etwas anknüpfen, was ich eben als zur reinen Entfaltung des pflanzlichen Seins gehörig bezeichnete und früher als charakteristisch für den Menschenleib erwähnte: die vertikale Aufrichtung. Es scheint, daß Mensch und Pflanze sich hier in etwas begegnen, was dem Tier fehlt. Liegt wirklich hier und dort dasselbe Phänomen vor? Als Triumph über die Materie erscheint die Aufrichtung auch dort; und man kann im Menschenantlitz wie in der Blüte die vollkommenste Selbstoffenbarung sehen. Darüber hinaus aber erscheint die Stellung des Menschenhauptes noch von anderer Bedeutung: Es ist das den ganzen Körper Beherrschende, von dem er überschaut, zusammengefaßt und regiert wird. Die vertikale Richtung ist hier eine doppelte: eine von unten nach oben – das Emporstreben zum Licht, eine von oben nach unten – ein Sichselbstfassen von oben her. Dadurch ist der menschliche Körper vom pflanzlichen wie vom tierischen unterschieden, unbeschadet der Gemeinsamkeit des organischen Charakters. Diese Gemeinsamkeit liegt wie in der Selbstoffenbarung so in der Gestaltung, der Entfaltung nach einem inneren Bildungsgesetz. Die Entwicklung des menschlichen Leibes von der einfachen Zelle zum komplizierten Organismus ist wohl das wunderbarste Beispiel des organischen Prozesses, in dem sich durch Wachstum und fortschreitende Differenzierung das teleologisch geordnete Ganze mit dem vollendeten Ineinanderspiel der Teile bildet. Vorgreifend dürfen wir schon sagen, daß dieser organische Prozeß, in dem der Leib sich gestaltet, seine Parallele im Seelisch-Geistigen hat; der ganze Mensch ist in den Entwicklungsprozeß einbezogen. Er erschöpft sich aber nicht darin, reiner Organismus zu sein; der Entwicklungsprozeß ist kein rein organischer Prozeß, und das gilt auch schon für den Leib. Die Entfaltung von innen her ist hier kein in sich geschlossener, wenn auch von materiellen Bedingungen beeinflußter Verlauf, sondern geschieht in beständiger Auseinandersetzung mit dem, was dem Organismus von außen begegnet. Mensch und Tier sind nach innen und außen aufgebrochen. Sofern dies etwas dem Menschen und dem Tier Gemeinsames ist, kann das Menschenwesen durch eine Analyse des tierischen Wesens geklärt werden.
Zuvor aber ist noch festzustellen, daß der Organismuscharakter oder das Pflanzenhafte im Menschen nicht überall gleich ausgeprägt ist. Er tritt reiner hervor beim Kinde als beim Erwachsenen und auch als beim Jugendlichen. Es ist kein bloßes poetisches Bild, wenn man so gern Kinder mit Blumen vergleicht, sondern hat eine sachliche Grundlage: Wir finden hier noch ein relativ ungebrochenes Sichentfalten und Sichoffenbaren, ein Ruhen in sich selbst. Und darum haben wir auch hier den Eindruck des Unschuldsvollen, Friedlichen und Selbstlosen. Der organische Charakter tritt ferner relativ stärker hervor bei der Frau als beim Mann, stärker beim Naturmenschen als beim zivilisierten. Und schließlich gibt es darin starke individuelle Differenzen. All diese Unterschiede werden sich aber erst recht fassen lassen, wenn wir über das spezifisch Tierische und das spezifisch Menschliche einige Klarheit gewonnen haben.
IV. Das Animalische
1. Tierische Bewegung; Triebcharakter
Bei dem Versuch, das spezifisch Pflanzliche zu fassen, sind wir in der Abgrenzung auch schon auf das spezifisch Animalische gestoßen. Die traditionelle Definition des animalischen Wesens als eines, das freie Bewegung im Raum und Empfindung hat, rechtfertigt sich phänomenal, sofern mit seiner äußeren Erscheinung das Spüren dessen, was mit ihm geschieht, und ein inneres Bewegungszentrum (evtl. mehrere) mitgegeben ist. Die Gegebenheit ist aber nicht völlig einheitlich für alle animalischen Wesen, sondern es treten hier charakteristische Unterschiede hervor. Wenn wir von den Grenzgebilden absehen, bei denen man dem puren Phänomen nach im Zweifel sein kann, ob sie noch als Pflanzen oder bereits als Tiere anzusprechen seien, ist die freie Bewegung für alles Animalische charakteristisch. Das »frei« bedeutet einmal, daß keine Bindung an einen bestimmten Ort vorhanden ist wie bei den Pflanzen, sodann daß die Bewegung nicht rein mechanisch von außen aufgenötigt ist wie bei den materiellen Dingen, sondern von innen her erfolgt. Die Freiheit bedeutet nicht Willkür oder Freiwilligkeit. Darin liegt gerade die Scheidung zwischen tierischer und menschlicher Bewegung und im Menschen selbst zwischen Tierischem und spezifisch Menschlichem. Die tierische Bewegung erscheint als eine streng gesetzmäßige, wenn auch nicht durch rein mechanische Gesetzlichkeit bedingte. Wir sprachen von einer Bewegung aus eigener Gesetzmäßigkeit, und daran müssen wir festhalten; es liegt eine andere Gesetzmäßigkeit im Tanz der Mücke als im Flug des Vogels, und wiederum eine andere im Taumelflug der Möwe als im Daherschießen der Schwalbe, im Trott des Bären eine andere als im Schleichen der Hyäne. Entsprechende Eigengesetzmäßigkeit finden wir bei verschiedenen Menschentypen und bei jedem menschlichen Individuum. Die Bewegung ist aber nicht rein von innen her bedingt, sondern ist eine ständige Auseinandersetzung mit Einwirkungen von außen. Dabei ist jetzt nicht an mechanische Bewegungsanstöße und die Kombination mechanischer und lebendiger Bewegung gedacht, von der früher die Rede war. In dem bei aller Gesetzmäßigkeit anscheinend regellosen Wandel und Wechsel in seinen Bewegungen scheint das Tier beständig von außen gezogen und gestoßen, aber nicht mechanisch-körperlich gezogen und gestoßen, sondern auf unsichtbare Weise innerlich getroffen und von innen her darauf reagierend. Wir haben hier phänomenal das Verhältnis von Reiz und Reaktion, wobei mitunter der Reiz mitgegeben ist (etwa, wenn die Katze mit einer rollenden Kugel spielt), mitunter aber nur die Reaktion in ihrem Reaktionscharakter (so häufig beim Flug der Insekten). Das Tier erscheint bei allen seinen Bewegungen von innen her getrieben und von außen gezogen oder abgestoßen. Die Bewegungen sind Auseinandersetzungen von beidem. Und wie für die Pflanze die Ruhe und Beschlossenheit in sich charakteristisch ist und das Festwurzeln im Boden wie ein Symbol ihres Wesens, so scheint für das Tier Ruhelosigkeit wesentlich und Unfixiertheit, zu der die räumliche Ungebundenheit notwendig gehört.
2. Empfindsamkeit; Innensein; Tierseele und -leib; Affektleben, Charakter
Das innere Betroffensein, das die reaktive Bewegung auslöst, bezeichnen wir als Empfindung, als Spüren dessen, was dem Lebewesen begegnet (in der üblichen psychologischen Terminologie wird schon die Empfindung als Reaktion bezeichnet). Das Tier empfindet das, was ihm begegnet, an und in und mit seinem Leib. Der Leib ist unmittelbar als empfindender aufgefaßt, eben das unterscheidet ihn vom bloßen Organismus. Allerdings ist diese Gegebenheit als lebendiger Leib nicht die gleiche bei allen Tieren. Bei den höheren Tieren, und besonders bei denen, deren Körper nicht durch ein allzu dichtes Haar- oder Federkleid verhüllt ist, wird der Leib unmittelbar als empfindender