»Beruhige dich, Irenchen, irgendwann wird auch bei uns wieder Ruhe einkehren«, meinte Dr. Daniel besänftigend, dann hob er den Hörer ab und meldete sich.
»Thiersch!« antwortete eine herrische Stimme.
»Herr Professor, das ist aber eine Überraschung«, erklärte Dr. Daniel. »Was kann ich für Sie tun?«
»Das wollte ich Sie eigentlich fragen«, entgegnete Professor Thiersch. »Meine Sekretärin sagte mir, daß Sie am Samstag hier angerufen haben.«
»Stimmt, aber das hat sich bereits erledigt«, antwortete Dr. Daniel. Er zögerte, entschloß sich dann aber doch zur Wahrheit. »Es ging um Dr. Scheibler.«
»Was ist mit ihm?« wollte Professor Thiersch wissen, und Dr. Daniel hörte zu seiner Überraschung den sehr besorgten Unterton heraus.
»Er war ziemlich am Ende«, erzählte er. »Der Vorfall mit Dr. Heller scheint sich in ganz München herumgesprochen zu haben. Dr. Scheibler fand einfach keine Stellung – nicht einmal in den umliegenden Krankenhäusern. Er kam zu mir, um mich zu bitten, daß ich noch einmal mit Ihnen spreche.«
»Warum haben Sie es nicht getan?«
Diese Frage erstaunte Dr. Daniel noch mehr.
»Dr. Heller und ich kamen zu dem Schluß, daß es nicht viel Sinn gehabt hätte«, gestand er offen ein.
»Kann sein«, grummelte der Professor. »Und was ist jetzt mit Scheibler?«
»Herr Professor, ich muß gestehen, daß ich Sie kaum wiedererkenne«, erklärte Dr. Daniel. »Ich habe noch nie erlebt, daß Sie um einen Arzt, den Sie mehr oder weniger aus der Klinik geworfen haben, so besorgt waren.«
»Ich bin nicht besorgt!« wehrte Professor Thiersch barsch ab. »Und jetzt beantworten Sie gefälligst meine Frage, Daniel!«
Der Arzt schmunzelte. Dieses Gespräch mit Professor Thiersch bewies wieder einmal, welch ein weiches Herz der Chefarzt im Grunde besaß, und eigentlich war es schade, daß er das nur so selten zeigte.
»Dr. Scheibler wird demnächst in der Waldsee-Klinik arbeiten«, erklärte er.
»Waldsee-Klinik?« wiederholte Professor Thiersch fragend. »Davon habe ich ja noch nie gehört.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Die Waldsee-Klinik wird gerade erst gebaut – hier in Steinhausen.« Er holte ein wenig weiter aus. »In der CHEMCO kam es vor einigen Monaten zu einem tödlichen Unfall. Der Mann hätte aber nicht sterben müssen, wenn er schnell genug ins Krankenhaus gekommen wäre. Deshalb haben wir uns jetzt für den Bau einer Klinik eingesetzt. Inzwischen steht der Rohbau, und in ein paar Monaten werden wir wohl Einweihung feiern können.«
»Mit Ihnen als Chefarzt«, vermutete Professor Thiersch.
»Um Himmels willen, nein!« wehrte Dr. Daniel ab. »Ich habe meine Praxis, und die möchte ich keinesfalls aufgeben. Dr. Metzler wird Chefarzt werden.«
»Metzler?« fragte Professor Thiersch zurück, und Dr. Daniel glaubte ihm dabei vor sich zu sehen. Vermutlich hatten sich seine buschigen Augenbrauen wie im Zorn zusammengeschoben.
»Ja, Herr Professor, Wolfgang Metzler. Ich nehme an, Sie erinnern sich noch an ihn.«
»Und ob ich mich erinnere! Einen Assistenzarzt wie ihn bekommt man alle hundert Jahre nur einmal… das heißt, ich hatte inzwischen schon drei davon – Metzler, Scheibler und Sie.« Er schwieg kurz. »Der Bursche war lange im Ausland.«
Dr. Daniel nickte, obwohl sein Gesprächspartner das nicht sehen konnte. »Amerika, Japan und China. Er hat so ungefähr an den besten Kliniken der Welt gearbeitet.«
»Alle Achtung.« Unüberhörbare Anerkennung klang aus diesen beiden Worten. »Richten Sie ihm Grüße von mir aus, und er soll sich mal bei mir sehen lassen.« Er zögerte, ehe er wieder ein bißchen was von seinem Inneren preisgab. »Ich würde mich freuen.« Wieder schwieg er einen Moment. »Und danke, daß Sie Scheibler eine Chance geben. Er hat’s verdient.« Dann legte er einfach auf.
Langsam ließ Dr. Daniel den Hörer auf die Gabel sinken.
»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, murmelte er.
»Was hast du gesagt?« wollte Irene wissen.
»Nichts von Bedeutung«, meinte Dr. Daniel. »Ich habe nur gemerkt, daß man von manchen Menschen immer wieder überrascht werden kann – auch wenn man glaubt, sie noch so gut zu kennen.«
*
In den vergangenen Wochen war es auch Dr. Daniel aufgefallen, wie sehr Patricia Gerhardt sich zu ihrem Vorteil verändert hatte. Immer wenn sie in seine Praxis kam, wirkte sie entspannt und gelöst – völlig anders als früher.
»So, Frau Gerhardt, Sie wollen sich also wieder Ihre Spritze abholen«, meinte Dr. Daniel, als Patricia an diesem Donnerstagmorgen sein Sprechzimmer betrat.
Mit einem glücklichen Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Nein, Herr Doktor, ich glaube, die brauche ich jetzt nicht mehr.«
Dr. Daniel begriff nicht gleich, worauf die junge Frau hinauswollte. Im ersten Moment dachte er, Oliver Gerhardt hätte seiner Frau die Wahrheit über die angeblich eisprungfördernden Spritzen gesagt.
»Das Medikament scheint gewirkt zu haben«, fuhr Patricia sogleich fort. »Ich habe das Gefühl, daß ich schwanger bin.«
»Das wäre schön«, meinte Dr. Daniel. »Kommen Sie, Frau Gerhardt, wir werden von Frau Kaufmann gleich einen Schwangerschaftstest durchführen lassen.«
»Darum habe ich schon gebeten«, erklärte Patricia und errötete dabei ein wenig. »Das Ergebnis müßte jeden Moment vorliegen.«
Dr. Daniel lächelte. »Na, dann warten wir mal ab.«
In diesem Augenblick trat Lena Kaufmann auch schon herein.
»Positiv«, verkündete sie strahlend, doch diesmal wagte Patricia es nicht, sich zu freuen. Bei der Eileiterschwangerschaft damals war das
Testergebnis schließlich auch positiv gewesen.
Dr. Daniel wußte natürlich, was in der jungen Frau vorging. Fürsorglich nahm er sie beim Arm.
»Es muß nicht wieder so sein wie beim letzten Mal«, erklärte er beruhigend. »Ich werde Sie jetzt gleich untersuchen, dann haben wir Gewißheit.«
Er begleitete sie ins Nebenzimmer, und Patricia trat auf seine Aufforderung hinter den dezent gemusterten Wandschirm, um sich freizumachen. Dabei zitterten ihre Hände so sehr, daß sie Mühe hatte, den Reißverschluß ihrer Jeans zu öffnen.
Dr. Daniel bemerkte die Anspannung, der die junge Frau unterlag und verzichtete auf eine körperliche Untersuchung.
»Wir werden uns das Ganze gleich einmal auf Ultraschall anschauen«, meinte er. »Sie kennen das Verfahren ja noch vom letzten Mal.«
Dr. Daniel schaltete den Bildschirm ein, dann rückte er mit seinem fahrbaren Stuhl näher, um die transvaginale Sonographie durchzuführen. Er lächelte Patricia an und deutete dabei auf einen hellgrauen Punkt auf dem Bildschirm.
»Sehen Sie das?«
Angestrengt verfolgte Patricia die grauen Schatten, dann schüttelte sie den Kopf.
»Tut mir leid, Herr Doktor, ich kann nichts erkennen«, erklärte sie bedauernd.
»Das macht nichts«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich kann Ihnen jedenfalls versichern, daß es sich diesmal um eine richtige Schwangerschaft handelt. Das befruchtete Ei hat sich in der Gebärmutter eingenistet – so, wie es sich gehört.«
In diesem Moment brach Patricia in Tränen aus.
»Herr Doktor«, schluchzte sie. »Ich bin ja so glücklich.«
Dr. Daniel stand auf, um ihr vom Untersuchungsstuhl herunterzuhelfen, dann sank sie weinend in seine Arme.
»Danke,