»Tun Sie’s nicht«, bat Dr. Heller. »Wenn er die Klinik schon verlassen muß, dann verbauen Sie ihm bitte nicht die Zukunft.«
Professor Thiersch warf ihm einen langen Blick zu, blieb aber eine Antwort schuldig. Und dann drehte er sich einfach um.
Dr. Heller verabschiedete sich höflich, bevor er das Zimmer verließ. Mit einem kurzen Blick auf die Uhr stellte er fest, daß Dr. Scheibler noch im Haus sein könnte, und lief rasch die Stufen zum ersten Stockwerk hinauf.
Wie ein Häufchen Elend saß Dr. Scheibler im Ärztezimmer und starrte blicklos vor sich hin. Dabei ergriff Dr. Heller erneut Mitleid, obwohl der junge Stationsarzt an der Misere, in der er jetzt steckte, selbst schuld war.
»Gerrit«, sprach Dr. Heller ihn an.
Erschrocken fuhr Dr. Scheibler hoch, und der Oberarzt entdeckte die Hoffnung, die in seinen Augen lag.
Bedauernd schüttelte Dr. Heller den Kopf. »Es tut mir leid, Gerrit, aber Professor Thiersch ist von seinem Entschluß nicht mehr abzubringen. Ich habe alles versucht, aber…« Er zuckte die Schultern. »Wenn Sie bis morgen früh nicht gekündigt haben, dann wirft er Sie hinaus – und zwar auf der Stelle. Wissen Sie, was das bedeuten würde?«
Dr. Scheibler senkte den Kopf und schwieg.
»Wer aus der Thiersch-Klinik fliegt, kommt nirgends mehr unter«, erklärte Dr. Heller.
»Das glauben Sie doch selbst nicht«, knurrte Dr. Scheibler. »In Deutschland gibt es eine Menge Krankenhäuser, die einen guten Arzt ohne weiteres einstellen.«
Doch Dr. Heller schüttelte den Kopf. »Verlassen Sie sich lieber nicht darauf. Ich habe das einmal bei einem jungen Arzt erlebt, der eine ähnliche Karriere vor sich hatte wie Sie. Er hatte gerade seine Assistenzzeit hinter sich und ließ sich etwas zuschulden kommen, woraufhin Professor Thiersch ihm fristlos kündigte. Zwei Jahre lang hat der junge Arzt versucht, an irgendeiner Klinik unterzukommen, dann hat er den Beruf gewechselt.«
Dr. Scheibler war sichtlich betroffen.
»Das heißt… ich muß kündigen – ob ich will oder nicht«, entgegnete er leise.
Dr. Heller nickte. »So wird es wohl aussehen.« Er schwieg kurz. »Ich kann Ihnen zwar nichts versprechen, aber ich denke nicht, daß Professor Thiersch den Grund für Ihre Kündigung in die Beurteilung schreiben wird.«
Dr. Scheibler erschrak. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Wenn Professor Thiersch den Vorfall in seiner Beurteilung erwähnen würde, dann käme das einer fristlosen Kündigung gleich.
»Das… das darf er doch auch gar nicht«, brachte Dr. Scheibler mühsam hervor.
Dr. Heller zog die Augenbrauen hoch. »Kennen Sie den Professor noch immer nicht? Wenn er es für richtig hält, würde er es gewiß tun. Und ich glaube auch nicht, daß Sie in diesem Fall mit einer Klage etwas erreichen würden. Immerhin würden Professor Thierschs Worte ja der Wahrheit entsprechen.«
Niedergeschlagen sackte Dr. Scheibler in sich zusammen. »Ich kann mir also auch einen anderen Beruf suchen.«
Tröstend legte Dr. Heller eine hand auf seine Schulter. »Lassen Sie den Kopf nicht hängen, Gerrit. Schreiben Sie Ihre Kündigung, und wenn Professor Thiersch den Grund dafür tatsächlich in der Beurteilung erwähnen sollte, dann werde ich ihn notfalls bis zum Umfallen bearbeiten, damit er es sich anders überlegt.«
Dr. Scheibler sah den Oberarzt mit prüfendem Blick an. »Warum tun Sie das alles für mich?«
»Weil ich finde, daß Sie für das, was Sie getan haben, zu hart bestraft werden«, entgegnete Dr. Heller ohne Zögern. »Ich an Professor Thierschs Stelle hätte Sie Strafdienst machen lassen, bis Sie zusammengebrochen wären, aber ich hätte Ihnen nicht die Karriere verbaut.«
*
Als Professor Thiersch am nächsten Morgen sein Büro betrat, wartete Dr. Scheibler bereits auf ihn. Jetzt stand er auf und überreichte ihm wortlos ein schmales weißes Kuvert.
Professor Thiersch nahm es entgegen, dann öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und entnahm ihr ein mehrseitiges Schreiben.
»Ich habe damit gerechnet, daß Sie meinen Rat befolgen würden, Scheibler«, erklärte er. »Deshalb habe ich gestern abend Ihre Beurteilung noch geschrieben.«
Unwillkürlich hielt Dr. Scheibler den Atem an. Was würde ihn jetzt wohl erwarten? Seine rechte Hand zitterte ein wenig, als er das Schreiben entgegennahm, dann warf er einen ersten vorsichtigen Blick darauf. Doch seine Bedenken waren umsonst gewesen. Es war eine sehr gute Beurteilung, die Professor Thiersch verfaßt hatte.
»Sie haben den Vorfall mit keinem Wort erwähnt«, stellte Dr. Scheibler fast ein wenig überrascht fest.
»Wenn ich das getan hätte, dann hätte ich Sie genausogut aus der Klinik werfen können«, meinte Professor Thiersch. »Und jetzt gehen Sie.«
Dr. Scheibler wollte dieser Aufforderung nachkommen, doch der Professor hielt ihn noch einmal zurück.
»In der Zeit, die Sie noch hier an der Klinik verbringen, möchte ich lediglich dienstlich mit Ihnen zu tun haben«, erklärte er hart. »Und ich möchte Sie auch dann nur sehen, wenn es sich nicht vermeiden läßt.«
Dr. Scheibler schluckte. Noch nie hatte er die Unerbittlichkeit des Professors so sehr zu spüren bekommen wie heute. Er murmelte einen Abschiedsgruß, dann ging er zur Tür, doch dort drehte er sich noch einmal um.
»Herr Professor, darf ich Ihnen eine Frage stellen?« wollte er wissen.
»Wenn es unbedingt sein muß«, knurrte Professor Thiersch unwillig.
»Ist es wahr, daß… ich meine, hatten Sie mich wirklich neben Dr. Heller als zweiten Oberarzt vorgesehen?«
Professor Thiersch nickte. »Ja, Scheibler, es war schon alles vorbereitet. Am kommenden Ersten hätte ich Sie zum zweiten Oberarzt ernannt.« Und plötzlich wurde er wütend. »Sie Holzkopf hatten eine beispielhafte Karriere vor sich! Ich glaube, Sie wissen gar nicht, welch ein erstklassiger Arzt Sie sind!«
Hoffnung keimte in Dr. Scheibler auf. Wenn sich Professor Thiersch zu einem solchen Geständnis hinreißen ließ, dann bedeutete das, daß er ihn nur ungern gehen ließ.
»Herr Professor, wenn Sie eine so hohe Meinung von mir haben… warum schicken Sie mich denn dann weg?« fragte Dr. Scheibler mit bebender Stimme. Vielleicht war das jetzt seine letzte Chance, Professor Thiersch doch noch umzustimmen.
Der Chefarzt erwiderte seinen Blick mit unbeschreiblicher Härte. »Weil ich meine Prinzipien habe, Scheibler, und an denen halte ich unerbittlich fest. Was Sie sich geleistet haben, lasse ich keinem Arzt durchgehen.«
»Herr Professor…«, begann Dr. Scheibler nahezu flehend, doch der Chefarzt drehte sich brüsk um und wandte ihm den Rücken zu.
»Gehen Sie mir endlich aus den Augen!« befahl er barsch, und dabei zeigte er nicht, daß ihm die Kündigung fast ebenso weh tat wie dem jungen Arzt.
*
Seit fast acht Wochen war Patricia Gerhardt wieder zu Hause, doch Dr. Daniels Worte hatte sie sich nicht zu Herzen genommen. Nach wie vor maß sie frühmorgens ihre Temperatur, um die fruchtbaren Tage möglichst genau errechnen zu können. Und dann kam sie eines Morgens aufgeregt ins Badezimmer, während Oliver sich gerade die Krawatte band.
»Ich habe keinen Eisprung!« stieß sie hervor. »Stell dir vor, Oliver, seit fast zwei Monaten habe ich keinen Eisprung mehr! Ich muß sofort zu Dr. Daniel! Dieser komische Klinikarzt muß einen Fehler gemacht haben! Womöglich hat er mir versehentlich beide Eileiter entfernt oder…«
Damit war der Punkt erreicht, an dem Oliver es einfach nicht mehr aushielt. Zwei Jahre lang hatte er Geduld bewiesen, doch Patricias jetziger Redefluß war der Tropfen, der bei ihm das sprichwörtliche Faß zum Überlaufen brachte.
»Du bist ja langsam hysterisch!«