Kemet. Melanie Vogltanz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Vogltanz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945045657
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klar wurde, was hier passierte, fing er an, sich mit aller Kraft zu strecken, langsam aus der Starre auszubrechen, seine Freiheit Millimeter um Millimeter zurückzuerlangen.

      Wenige Augenblicke später barst er aus dem Dungball hervor, der ihn bis eben eingeschlossen hatte. Heiß schien die Sonne erneut auf seinen goldenen Panzer hernieder, der nun stellenweise von fäkalen Überresten bedeckt war, doch das bekümmerte ihn nicht. Er hatte es geschafft, ein weiteres Mal war er in der Welt der Sterblichen angekommen!

      Die Erfahrung hatte ihn entkräftet, aber er hatte keine Zeit, zu ruhen. Mit ausgebreiteten Flügeln schoss er hoch zum Himmel der Sonne entgegen, ließ die gesamte Wüste unter sich zurück. Rasch orientierte er sich neu, suchte nach den Himmelsrichtungen, bis er zweifelsfrei wusste, in welcher Himmelsrichtung Norden war, wohin sich der Namenlose nach dem Ende seiner Kreuzzüge zurückgezogen hatte, auf jenen Kontinenten hinter dem großen Meer. Für Chepre wurde es Zeit, die längste und gefährlichste Reise, die er in seinem Leben je gewagt hatte, anzutreten.

      Begleitet einzig vom Brummen seiner Flügel, flog er Tage und Nächte lang, bis er schließlich die Küste erreichte und weiter auf das offene Meer hinausflog. Während seiner Reise zog ein Sturm auf, Regentropfen so groß wie sein gesamter Körper fielen vom Himmel auf ihn herab und drängten ihn in das tosende Meer unter ihm, wo die Wellen ihn gierig verschlangen. Er starb.

      ***

      Erneut erwachte er, erneut rang er sich ins Leben zurück und trat jene Reise an. Diesmal landete er auf einem Schiff der Menschen, versuchte den Ozean damit zu überqueren. Es sah vielversprechend aus, er kam sehr schnell voran, bis ihn eine Seemöwe entdeckte und ein gezielter Stoß ihres gelben Schnabels seinen Kopf zerschmetterte. Er starb.

      Er erwachte, fing an einen Tunnel zu graben, unter dem Meer hindurch auf der niedrigsten Ebene der Welt, bis die Decke über ihm nachgab und ihn lebendig begrub. Er starb.

      Er flog über der Wolkendecke, bis er einfror und als harter Brocken vom Himmel stürzte, hinab auf den Boden, der ihn zerbersten ließ. Er starb.

      Er schwamm auf einem Stück Treibholz und starb. Er versteckte sich im Gepäck eines Reisenden und starb. Im Gefieder eines Vogels. Er starb. Er ritt im Auge eines Taifuns. Er starb. Er lebte. Er starb. Er starb. Er starb.

      Er starb tausend Tode und mehr, jeder seiner Versuche versetzte ihn zurück an den Anfang, jeder Verlust seines Lebens zerschmetterte seinen Körper, doch sein Geist blieb ungebrochen, sein Wille stählern. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er dieses Unterfangen gestartet hatte. Die Grenze zwischen dem Reich der Sterblichen und der Unterwelt begann immer mehr für ihn zu verschwimmen, bis sie irgendwann nicht mehr existierte, er nicht länger tot oder lebendig war. Er war mehr. Er war Chepre!

      ***

      Wie ein Schock kam es über den kleinen Gott, als er mit seinen sechs Beinen sandigen Boden unter seinen Füßchen berührte, der nicht zu seinen Wüsten gehörte. Er drehte sich um, vergewisserte sich, dass das Meer tatsächlich hinter ihm lag, dass keine grausame Täuschung ihn auf dem Ozean umgedreht hatte und er erneut in Ägypten angekommen war. Nichts dergleichen war der Fall. Er hatte es tatsächlich geschafft.

      Sofort fuhr er seine Fühler aus, suchte nach dem Namenlosen, dem Ziel seiner Strapazen, tastete sich durch die dünne Luft. Da war er schließlich, schwach, kaum merklich, aber seine Präsenz lag in der Luft, eine schwache Fährte, dennoch deutlich genug, um ihr zu folgen. Und folgen würde er ihr, über Ebenen und Berge, durch Städte und Wälder, zurück bis hin zu ihrem Ursprung: Eine gewaltige Stadt im Stil des alten Roms.

      Hier war es, dass Chepre die Kreuze des Namenlosen fand, seine gewaltigen, spitzen Tempel. Er hörte Leute Gebete zu ihm sprechen, sah, wie sie ihm huldigten, doch irgend etwas stimmte nicht. Keine jener Personen, die ihm zu folgen vorgaben, glaubte mehr an ihn. Dies war seine erste Interpretation der Situation, doch auch die erwies sich als falsch. Der Blick seiner Facettenaugen huschte umher. Schnell fand er heraus, dass viele glaubten dem Namenlosen zu huldigen, doch kaum jemand tat es wirklich. Niemand verstand ihn, erinnerte sich an ihn, hatte in irgendeiner Form ein einheitliches Bild von ihm oder sich hielt sich an seine Gesetze. Nicht wie der Namenlose es einst wollte.

      Männer rasierten ihre Bärte ab, Frauen widersprachen Männern und Benachteiligte traten ungehindert an den Altar des Namenlosen heran. Jeder Einzelne von ihnen trug Gewänder aus mehr als einem Stoff und nicht einer jener Menschen schien ein Sklave zu sein. Obwohl sie alle vorgaben, dem einen zu folgen, folgten sie alle nur dem einen oder anderen Aspekt dem sie folgen wollten. Als würden sie ihn verspotten, seinen Willen bewusst missachten. Jeder dieser Menschen hatte sich seinen eigenen Namenlosen erschaffen, dem er Folge leistete, einen Gott einzig für sich selbst, einen Gott, der sich ihm anpasste und nicht umgekehrt.

      Schließlich hatte Chepre genug gesehen, es war an der Zeit, seine Reise zu beenden, sein Ziel zu erreichen. Es gab einen Ort in jener Stadt, in der die Präsenz von jenem Einen ein wenig stärker zu pulsieren schien. Ein gewaltiges Gebäude, in dem er sich versteckt halten musste. Mit Bedacht betrat Chepre das steinerne Gemäuer. Zwar drohte ihm keine unmittelbare Gefahr, doch er war zu weit gekommen, als dass ihn der Gedanke eines unerwarteten Scheiterns nicht nervös machte. Seine sechs Beine klackten über den Steinboden, der mit Kreuzen und Wandmalerei ausgeschmückten Kathedrale. Das Gebäude war menschenleer, jene, die es bei Tage bewandert hatten, waren in ihre Häuser zurückgekehrt, so dass Chepre allein mit dem Licht des Sichelmondes war.

       Er, der sich nähert, gleich Mann, gleich Tier, soll sich zu erkennen geben, bevor er vor den Einen tritt!

      Der Klang der ach so vertrauten Stimme ließ ihn aufschrecken, ihn herumwirbeln und seinen Blick auf jenes Wesen, das da kaum merklich in der Ecke kauerte, fallen. Die Präsenz wirkte so unscheinbar, dass selbst Chepres göttliche Sinne es fast nicht vermochten, die Gestalt wahrzunehmen, obwohl sie direkt vor ihm saß. Der Namenlose fing ebenfalls an zu realisieren, um wen es sich bei dem goldenen Skarabäus handelte.

       Ketzer! Totgeglaubter, der du da vor mir stehst, gekommen, um dein Werk zu vollenden! Ist es Blutdurst, der dich treibt, Rache für eine Sache, die du als gerecht empfindest?

      Die Frage machte Chepre nachdenklich. Wie oft hatte er sich gewünscht, seine gefallenen Geschwister zu rächen, jenen Einen mit gerechtem Zorn niederzustrecken, der seine gesamte Zivilisation zum Tode verurteilt hatte. Doch nun, wo er das klägliche Wesen vor sich sah, ein sterbender Schatten seines einstigen Selbst, verlassen von all jenen, die ihm einst gefolgt waren, verblasste dieser Wunsch. Es war nicht länger Wut, die Chepre für die Kreatur empfand, auch keine Furcht, sondern beinah Mitleid. Menschen brauchten keine Götter. Dies hatten sie wieder und wieder bewiesen. Es waren die Götter, die von ihnen abhängig waren, immer schon. Sie redeten den Sterblichen bloß ein, dass sie ihrer Führung bedurften, doch ohne den Glauben der Menschen waren sie nicht einfach machtlos, sie starben. Der Namenlose spürte den Umschwung im Geiste seines Gegenübers, wie jener winzige Skarabäus mehr und mehr auf ihn herabzusehen begann, und es gefiel ihm nicht.

       Du wagst es, den Herr von oben herab zu betrachten? Den einen, den wahren Gott? Das jüngste Gericht wird kommen und richten über all jene Heiden und euch falsche Götter! Einzig mein Gefolge soll es schonen, ihnen gebührt die Ewigkeit!

      Die Drohungen stießen auf taube Ohren, war ihr Sprecher doch nicht mehr als eine sterbende Ratte, die sich ein letztes Mal aufplusterte, bevor der Tod sie endgültig ereilte, sich mit Zähnen und Krallen an das wenige Leben klammernd, das ihr noch verblieben war. Chepre wandte sich von der Kreatur ab, die seiner Aufmerksamkeit nicht länger wert war, konnte es kaum glauben, dass dieser flüchtige Schatten einst zur Geißel seines großen Reichs werden konnte.

       Halt ein! Bleib stehen und stell dich!

      Chepre tat nichts dergleichen. Er hatte keine Zeit, sich noch länger mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Es galt, in seine Heimat zurückzukehren. Ohne den Namenlosen gab es niemanden mehr, der eine Gefahr für ihn darzustellen vermochte. Er würde zurückkehren, er würde den Thron der Götter besteigen und ganz Ägypten unter sich vereinen. Dies war der Beginn einer neuen Ära und er würde sie einläuten! Er krabbelte los, in eine Zukunft