Kemet. Melanie Vogltanz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Vogltanz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945045657
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der Erde! Die Zeit ist gekommen, euch in Freiheit zu wissen!« Horus strich sich über den leicht gebogenen Schnabel, die Fernsehkamera mit dem einen Auge im Visier. »Die Herrscher eurer Welt haben die Macht, die wir ihnen einst anvertraut haben, stetig weiter ausgebeutet und schamlos entehrt. Um den Planeten zu retten, müssen wir ihnen Einhalt gebieten.«

      Isis, die Urmutter und Schutzgöttin des Lebens, pflichtete ihm durch leichtes Kopfnicken bei, während die Liebesgöttin Hathor aus ihren Kuhnasenlöchern schnaubte.

      »Alle eure Politiker, gekrönte und ungekrönte Häupter, oberste Wirtschafts- und Bankenführer, die wir des Betruges und der Korruption überführt haben«, so der Schöpfergott Horus weiter, »werden heute zur Rechenschaft gezogen.«

      Die Göttin Bastet, die seit jeher den Schutz vor bösen Mächten garantierte, fauchte katzengleich in die Kamera.

      Seth, Gott des Krieges und der Verwirrung, tupfte sich mit einem Tuch den Speichel von seinem Krokodilsmaul, das mit spitzen, scharfen Zähnen gespickt war. Er setzte die Ansprache von Horus mit dunkler Stimme fort.

      »In Übereinkunft mit Maat, welche in unserer Runde die Wahrheit, Weisheit und Weltordnung verkörpert, geben wir gemeinsam bekannt, die benannten und für schuldig befundenen Personen unverzüglich aus ihrer jetzigen Zeit zu verbannen. Sie werden 4500 Jahre zurück in die ruhmreiche ägyptische Vergangenheit versetzt und dürfen als Sklaven in der Gnade des Pharaos einen gerechten Ausgleich erfahren. So sei es.«

      Der einst als Urgott verehrte Amun, auf dessen Kopf die riesigen Pfauenfedern sanft flimmerten, bedankte sich für die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Der ihm geweihte Tempel von Luxor sei schon sehr bald wieder vollständig. So wie es auch mit dem Geist der Welt passiere. Zum Schluss blinzelte Horus kurz in die Kamera, dieses Mal jedoch mit beiden Augen: Das linke nahm wie durch Zauberhand unmittelbar Gestalt an. Anschließend verloren die sieben Götter Ägyptens rasch wieder an Körperlichkeit und wurden – mitsamt des Marmortisches – immer durchsichtiger. Zuletzt bestand die gesamte Gruppe nur noch schemenhaft aus Nebel, der sich Funken sprühend in Luft auflöste.

      Die Bildschirme wurden wieder schwarz. Es dauerte jedoch nicht lange und die einschlägigen TV-Stationen waren erneut auf Sendung. Ein Aufruhr ging um! Zwar hatte sich der feine, dunkle Staub weltweit gelichtet, doch die nächsten Sensationsmeldungen ließen nicht lange auf sich warten. Sämtliche Medien berichteten von plötzlich verschwundenen Präsidenten, Ministern, Staatsbeamten, Militärs und Finanz-Managern. Sie schienen unauffindbar und es war, als hätte man sie direkt von den Orten ihres Wirkens – in Parlamenten, Konferenzräumen, Büros oder Dienstwagen – entfernen lassen. In den Chef-Etagen bedeutender Banken, Börsen und Unternehmen zeigte sich dasselbe geisterhafte Bild. Auch hohe Würdenträger verschwanden hier und da aus den Gotteshäusern. Polizei und Behörden gaben erste Vermisstenmeldungen heraus; hunderte sollten noch folgen.

      Die glanzvoll leuchtenden Udjat-Augen – auch als Horus-Augen bekannt – verloren am Himmel währenddessen ihre Strahlkraft.

      Doch damit nicht genug: Die Obelisken von Rom, London und Paris hatten sich komplett dematerialisiert und hinterließen in den drei europäischen Städten leere Stellen an ihren einstigen Standorten. Die Fernsehsender zeigten nachfolgend in Live-Bildern die drei abhanden gekommenen Obelisken, und zwar an drei verschiedenen Orten in Ägypten. Sie waren auf unerklärliche Weise an ihre ursprünglichen Standorte zurückgekehrt. So befand sich der Pariser Obelisk wieder neben seinem Zwillingsbruder vor dem Tempel in Luxor.

      Mit Spannung schaute die Welt nun nach Russland, Argentinien und in die Vereinigten Staaten. Die dort verbliebenen drei Steinpfeiler stammten nicht aus dem Land am Nil; es handelte sich lediglich um aufwendige Repliken. Größer, höher und protziger als ihre Vorgänger. In Buenos Aires entstand eine Massenpanik, als der Obelisk völlig unerwartet auf den Plaza de la República stürzte und in tausend Trümmerteile zerbrach. Zur selben Zeit krachte der Obelisk von St. Petersburg wie eine eingeknickte Pappsäule auf den Platz des Aufstandes und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Und das fast 170 Meter hohe Washington Monument landete in einem dramatischen freien Fall im Garten des Weißen Hauses und zerstörte mit seiner Spitze die Außenfront des Oval Office. Dies waren lediglich die Vorboten der Götter als deutliche Warnung an diejenigen, die sich in Zukunft anschickten, ihre Macht zu missbrauchen.

      Das groteske Tagebuch des Anubis

       Jessica Iser

      

      »Bei allen Göttern!«, entfuhr es mir, als ich die Schlagzeilen der Zeitung las. Das Monster auf der Rosenhöhe, hieß es da. Und direkt darunter: In dem historischen Park Darmstadts soll laut mehrerer Augenzeugen eine menschenähnliche Kreatur mit Wolfskopf umherstreifen. Treibt etwa ein Werwolf sein Unwesen in Südhessen?

      »Schakal«, korrigierte ich das Schundblatt in meinen Händen gereizt. »Ich bin ein Schakal, kein Wolf!«

      Noch war es dunkel, kurz vor der Morgendämmerung, und ich begegnete nur wenigen Menschen, die allerdings so beschäftigt auf ihre Smartphones schauten, dass sie mich im Schatten meiner Kapuze nicht bemerkten. Seit meinem Erwachen in dieser merkwürdigen Zeit hatte ich so einiges über den Fortschritt der Menschheit herausgefunden, mich aber noch nicht entschieden, ob mir das alles nun gefiel oder ob ich mich am liebsten gleich wieder zurück in den Sarkophag legen sollte.

      Als ich am Hessischen Landesmuseum vorbeikam, wurden meine Schritte langsamer. Vor etwas mehr als zwei Wochen war ich dort drinnen wiederauferstanden. Eigentlich sollte es nur ein Zwischenstopp für den Transport meines Sarkophags und die der anderen sein, so viel wusste ich inzwischen. Aber etwas war geschehen.

      Lange Zeit war um mich herum nur friedliches Nichts gewesen, dann drangen plötzlich gedämpfte Donnerschläge an meine empfindlichen Ohren. Mein Bewusstsein kehrte allmählich so weit zurück, dass ich mich daran erinnerte, in einem Sarkophag zu liegen. Irgendwo dort draußen tobte ein Sturm. In mir ebenfalls.

      Ich hieb mit den Fäusten so lange gegen den Deckel, bis er schließlich nach außen aufschlug und mir frische Luft entgegenströmte. Nun, so frisch, wie abgestandene Museumsluft im Vergleich zu der in einem uralten Sarkophag eben sein konnte. Es war düster und still, bis auf das Unwetter, das dicke Regentropfen gegen die Fenster peitschte.

      Ich streckte meine Arme, öffnete und schloss meine Hände. Es fühlte sich eigenartig an, wieder in der Welt der Lebenden zu wandeln. Das heißt, fast zu wandeln, denn im ersten Augenblick schaffte ich es kaum, mich aus meiner Ruhestätte zu erheben.

      Ich erkannte die anderen Sarkophage trotz des mangelnden Lichts sofort. Osiris, Bastet, Cherti, Isis … Die Deckel standen offen und das Innere war verlassen. Irgendwo trieben nun diverse Gottheiten ihr Unwesen und hatten mich einfach zurückgelassen.

      »Bastarde«, murmelte ich bei der Erinnerung an jene Nacht. Seitdem suchte ich nach meinen göttlichen Verwandten. Ich musste sie finden, ehe sie irgendein Unheil anrichteten. Vielleicht auch einfach nur, um Seth eine reinzuhauen.

      Später, sagte ich mir im Stillen und ging weiter in Richtung Herrngarten, während das Museum und die letzten beiden Wochen hinter mir zurückblieben. Ich trat durch das Tor in den Stadtpark, passierte den stillgelegten Brunnen und lief querfeldein über die Wiese. Um diese Uhrzeit war hier glücklicherweise nichts los. Einige Menschen hetzten über die gepflasterten Wege, entweder in Richtung Universität oder zur Straßenbahnstation. Nach wie vor schenkte mir niemand Beachtung.

      Unterwegs pfefferte ich die Tageszeitung zusammengerollt in den nächsten Mülleimer und schüttelte noch einmal ungläubig den Kopf angesichts des hanebüchenen Artikels, der mich Werwolf schimpfte. Gleichzeitig fragte ich mich, wie die anderen Götter unentdeckt blieben, während über meine Wenigkeit bereits seltsame Gerüchte in der Stadt kursierten.

      Ich hatte den Park kaum zur Hälfte durchquert, als mir ein Rascheln, mal lauter, mal leiser, zu folgen begann. Mein linkes Ohr zuckte unruhig. Ich musste mich nicht herumdrehen, um zu wissen, wer hinter mir her war.

      »Verschwinde«, knurrte ich, ohne stehen