Die lange und holperige Einfahrt mußte dringend aufgeschüttet werden. Auch um die alten Eichen rechts und links des Weges hatte sich offenbar seit langem niemand mehr gekümmert, und die Uferbänke des kleinen Sees waren von Iris förmlich überwuchert.
Winslow Hall selbst war ein wunderschönes Gebäude. Es stammte von dem berühmten Architekten Indigo Jones. Leider bedurften die Ziegel einer gründlichen Säuberung. Im obersten Stockwerk war eine ganze Anzahl von Fensterscheiben zerbrochen. Nur die untersten beiden Geschosse befanden sich in gutem Zustand, weil man sie erst kürzlich in Ordnung gebracht hatte.
Die Kutsche hielt vor der offenen Eingangstür.
Dawson, der Kutscher, war zu alt, um herunterzuspringen und Prunella beim Aussteigen zu helfen.
»Soll ich hier auf Sie warten oder hinten im Hof, Miss Prunella?« fragte er.
Prunella zögerte einen Augenblick.
»Ich denke, Sie sollten ums Haus herumfahren und nach den Carters schauen«, entschied sie. »Die unerwartete Rückkehr Seiner Lordschaft dürfte sie ein bißchen aus der Fassung gebracht haben.«
»Wie Sie meinen, Miss Prunella.«
Ohne ein weiteres Wort lief sie die Stufen hinauf ins Haus.
Wie sie erwartet hatte, war die Eingangshalle leer. Obwohl Prunella ein bißchen nervös war, steuerte sie mit resoluten Schritten auf die Bibliothek zu, wo sie den Earl zu finden hoffte. Aber auch dort war er nicht. Genauso wenig wie im angrenzenden großen Salon, dessen Fensterläden noch geschlossen waren. Sogar die Möbel waren noch verhüllt.
Prunella dachte einen Augenblick nach. Dann ging sie die Treppe hinauf, deren kunstvolles schmiedeeisernes Geländer aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte. Oben angelangt, wandte sie sich der Gemäldegalerie zu.
Der Gedanke, ihn dort zu finden, schmerzte sie aus bestimmten Gründen.
Prunella hatte sich nicht geirrt. In der Galerie, die die ganze Länge des Hauptgebäudes einnahm, befand sich tatsächlich ein Mann.
Er wandte ihr den Rücken zu. Prunella bemerkte nicht sofort, daß er hochgewachsen und breitschultrig war, sie sah zunächst nur, daß er ein Bild von van Dyck betrachtete.
Sie preßte die Lippen zusammen und ging langsam auf ihn zu. Als er ihre Schritte hörte, drehte er sich um. Gerald, der sechste Earl of Winslow, glich in keiner Weise dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte.
Da immer so viel von seinem wilden, zügellosen Benehmen gesprochen worden war, hatte sie einen Dandy in der Art seines Neffen Pascoe erwartet. Diese Beschreibung paßte aber nicht auf den Mann, der ihr mit einem Ausdruck der Überraschung in den dunklen Augen entgegenblickte. Seine nachlässige Kleidung zeigte mehr als alles andere, daß Charity recht gehabt hatte. Er war hier, um etwas zu finden, was sich verkaufen ließ.
Seine Jacke war korrekt geschnitten, saß aber viel zu locker. Die Hosen waren unauffällig. Was seine Lederstiefel betraf, so mußten sie dringend geputzt und poliert werden.
Die Krawatte hätte Pascoes helles Entsetzen erregt. Sogar für Prunellas Geschmack wirkte sie höchstens bequem, aber keineswegs elegant.
Das Auffällige an ihm war seine braune Haut. Prunella mußte sich erst ins Gedächtnis rufen, daß er ja aus Indien kam und daher sonnengebräunt sein mußte.
Während sie den Earl aufmerksam betrachtete, tat er das gleiche mit ihr. Er überlegte, wer diese Frau wohl sein mochte und ob er sie je zuvor gesehen hatte. Als sie näherkam, wurde ihm klar, daß das nicht möglich war, sie war zu jung, als daß er ihr früher schon einmal hätte begegnet sein können.
Sein erster Eindruck erwies sich demnach als falsch. Er hatte sich durch das einfache graue Kleid und den Schutzhut mit den grauen Bändern täuschen lassen und zuerst geglaubt, eine Frau mittleren Alters vor sich zu haben.
Das ovale, von großen, grauen Augen beherrschte Gesicht war das einer jungen Frau. Ihn wunderte ihr kritischer und offen mißbilligender Blick.
»Darf ich mich erkundigen, ob Sie gekommen sind, um mich zu besuchen?« fragte er, als sie vor ihm stand. »Da mir das sehr unwahrscheinlich vorkommt, gibt es vielleicht einen anderen Grund für Ihre Anwesenheit in Winslow Hall?«
Prunella knickste.
»Ich bin Prunella Broughton, Mylord. Mein verstorbener Vater, Sir Roderick, war ein enger Freund Ihres Vaters.«
»Ich erinnere mich an Sir Roderick«, erwiderte der Earl. »Dann sind Sie sicherlich das hübsche kleine Mädchen, das ihn bei seinen Besuchen manchmal begleitete.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich meiner erinnern. Leider muß ich Ihnen etwas sagen, was Sie wissen sollten.«
»Nun, ich traf erst gestern abend hier ein und bin gerade dabei, die Bekanntschaft mit meinen Ahnen zu erneuern. Aber selbstverständlich werde ich Ihnen gern zuhören, Miss Broughton.«
»Wenn Sie einige der Bilder verkaufen wollen, dann bitte nicht dieses«, rief Prunella. »Es ist das Beste von allen. Ihr Vater pflegte dazu immer folgende Geschichte zu erzählen: Als van Dyck das Bild beendet hatte, wollte er in jenem Augenblick sterben, weil er überzeugt war, niemals mehr ein besseres Portrait zu malen.«
Daraufhin entstand ein betroffenes Schweigen.
»Woraus folgern Sie, daß ich beabsichtige, eines dieser Bilder zu verkaufen«, begann der Earl schließlich.
»Ich fürchtete, Sie hätten das im Sinn«, gestand Prunella. »Wenn Sie erlauben, zeige ich Ihnen eine Liste, auf der ich die Gegenstände im Haus aufgeführt habe, die einen guten Preis erzielen, von zukünftigen Generationen aber nicht so vermißt werden wie die Gemälde in der Galerie.«
»Ich verstehe kein Wort, Miss Broughton. Was veranlaßt Sie dazu, sich derart mit meinen privaten Angelegenheiten zu beschäftigen?«
Prunella zog den Atem ein.
»Um das zu erklären, bin ich hier, Mylord.«
Der Earl schaute sich um, als wolle er vorschlagen, sich hinzusetzen. Die Sessel in der Galerie aber trugen Hüllen, die die Polster am Verblassen hindern sollten.
Prunella las seine Gedanken.
»Wir sollten nach unten in die Bibliothek gehen«, schlug sie vor. »Ich habe immer dafür gesorgt, daß der Raum in Ordnung ist.«
»Sie haben dafür gesorgt?« fragte der Earl ungläubig.
»Das muß ich Ihnen auch erklären«, setzte sie leicht errötend hinzu.
»Ich bin sehr gespannt auf Ihre Erklärung.«
In seiner Stimme schwang eine gewisse Härte mit.
Sie gingen schweigend durch die Galerie die Treppe hinunter in die Halle. Dort stießen sie auf einen Mann, von dem Prunella annahm, daß es sich um den Kammerdiener handelte.
»Da sind Sie ja, Mylord«, rief er in einem Ton, den Prunella ein wenig zu vertraulich fand. »Da nichts zu essen im Haus ist, dachte ich mir, ich fahre ins Dorf und kaufe ein.«
»In Ordnung, tu das«, stimmte der Earl zu.
Der Kammerdiener wandte sich schon zum Gehen, als Prunella sich einmischte.
»Ich fürchte, in Little Stodbury gibt es nicht viel zum Einkaufen. Fahren Sie lieber zur Home Farm. Mrs. Gabriel wird Ihnen einen hervorragenden selbstgeräucherten Schinken geben. Falls sie gerade geschlachtet haben, hat sie vielleicht auch eine Hammelkeule für Seine Lordschaft.«
»Vielen Dank, Madam«, sagte der Kammerdiener.
»Mrs. Carter hätte Sie informieren können, daß die Home Farm Sie auch mit Butter, Milch und Eiern versorgt, nur werden Sie dafür bezahlen müssen.«
Mit einem etwas ängstlichen Blick auf den Earl fuhr sie fort: »Die Vereinbarungen, die die Farmersfamilie mit ihrem Vater getroffen hatte, endeten mit seinem Tode. Die Leute haben nun sehr zu kämpfen und können