Prunella war damals erst sieben und konnte die Situation noch nicht überblicken. Später wurde ihr die Geschichte so oft erzählt, daß sie sie auswendig kannte. Obwohl sie inzwischen einige Variationen davon gehört hatte, fiel es ihr genau wie beim ersten Mal schwer zu glauben, daß sie der Wahrheit entsprachen. Bei dem selbstherrlichen alten Earl mußte alles nach seinen Wünschen gehen. Sein Sohn war offenbar aus dem gleichen Holz geschnitzt.
Beide waren starrköpfig, selbstgerecht und anmaßend. Der Earl verlangte von seinem Sohn, einen Schlußstrich unter seine Affären zu ziehen und nicht mehr so viel Geld zu verschwenden. Er solle endlich heiraten. und eine Familie gründen.
Gerald aber antwortete, daß er nichts dergleichen zu tun gedenke.
»Sie waren wie zwei Kampfhähne«, erzählte einer der alten Gefolgsleute Prunella. »Keiner wollte nachgeben. Widerstand konnte Seine Lordschaft nicht ertragen; dann verlor er regelrecht die Beherrschung.«
Prunella hatte selbst so manchen Tobsuchtsanfall des alten Earl erlebt. Er gab dann kein besonders erfreuliches Bild ab. Jetzt erfuhr sie, daß Mr. Gerald ebenfalls ein solch ungezügeltes Temperament besaß.
Die beiden standen also einander in nichts nach. Am Ende drohte der Earl, begleitet von vielen Beleidigungen, seinen Sohn zu enterben.
Gerald teilte seinem Vater mit, was er mit seinem Geld anfangen könnte.
»Nichts als schöne Worte«, höhnte der Earl. »Ohne Geld wirst du bald im Schuldenturm landen und mich um Hilfe bitten.«
»Lieber würde ich sterben«, erwiderte Gerald. »Du kannst dein verdammtes Geld, deine unerbetenen Ratschläge und deine ständigen Besserwissereien für dich behalten. Und was mein Erbe und dieses Gut betrifft, das dir so viel bedeutet, kann es soweit es mich betrifft, getrost verrotten. Ich würde keinen Finger rühren, um das Haus vor dem Einstürzen zu bewahren.«
Er hätte nichts Schlimmeres sagen können, um seinen Vater mehr aufzubringen. Doch ehe dem Earl eine passende Antwort einfiel, war Gerald bereits gegangen.
Als nächstes wurde bekannt, daß Mr. Gerald England verlassen hatte, nicht ohne die hübsche, junge Frau eines Nachbarn mitzunehmen. Ihr um viele Jahre älterer Ehemann drohte, Gerald wie einen tollwütigen Hund niederzuschießen.
Von diesem Augenblick an herrschte Schweigen.
Einen Monat später flammte erneut der Krieg mit Frankreich auf. Man wußte nur, daß Gerald England verlassen hatte. Falls er sich nach Paris gewandt hatte, was wahrscheinlich war, war die Dame, die ihn begleitet hatte, jedenfalls nicht zurückgekehrt.
Nur wenigen Menschen war die Flucht aus den Gefängnissen geglückt, in die Napoleon alle britischen Besucher gesperrt hatte. Gerald befand sich aber nicht darunter.
Nach fünf Jahren sprach sich herum, daß die Dame, die er mitgenommen hatte, im Fernen Osten an Cholera gestorben war. Keiner wußte danach, ob Gerald ebenfalls ein Opfer dieser Krankheit geworden war. Prunella erinnerte sich, was der Earl ihrem Vater vor vier Jahren erzählt hatte. Er habe einen Brief von einem Freund erhalten, in dem stand, daß Gerald in Indien gesehen worden sei.
Von einer Heimkehr konnte nicht die Rede sein. Sie wäre auch sehr schwierig gewesen, falls er nicht auf einem Truppentransporter gefahren wäre. Obwohl das britische Königreich die Meere beherrschte, war es eine lange und gefährliche Reise von Indien nach England. Die einzigen Schiffe, die diese Fahrten unternahmen, waren solche, die Truppen nach Indien brachten oder sie nach Hause holten.
Ein Jahr bevor Prunellas Vater starb, erlitt der Earl einen Schlaganfall.
Nach einem seiner Temperamentsausbrüche sank er bewußtlos zu Boden. Er siechte noch zwei oder drei Monate dahin und starb schließlich, ohne jemanden wiederzuerkennen.
Es war teilweise dem schmerzlichen Verlust seines alten Freundes zuzuschreiben, daß der ohnehin nur noch schwache Lebenswille ihres Vaters erloschen war.
Prunella hatte ihn Tag und Nacht gepflegt. Er verabscheute es, fremde Leute um sich zu haben, und klammerte sich so fest an sie, daß sie ihn in seinen letzten Lebenstagen nicht allein lassen durfte.
Hielt sie sich tagsüber nicht in seinem Schlafzimmer auf, rief er nach ihr. Auch nachts schickte er manchmal zwei- oder dreimal nach ihr nur um sie zu sehen.
Gleichzeitig wurde er so nörgelig und schwierig, wie es nur ein Invalide sein kann. Als er schließlich starb, war die erschöpfte Prunella einem Zusammenbruch nahe.
Nachdem Charity sie ins Bett gesteckt hatte, schlief sie achtundvierzig Stunden durch.
»Ich muß aufstehen«, befahl sie sich mit schwacher Stimme nach diesen zwei Tagen.
»Sie bleiben, wo Sie sind, Miss Prunella«, bestimmte Charity mit fester Stimme.
»Aber . . .«
»Miss Nanette und ich schaffen es allein. Schlafen Sie weiter, Miss Prunella. Ich wecke Sie, wenn wir Sie brauchen.«
Prunella fühlte sich zu schwach und müde, um zu widersprechen. Später wurde ihr klar, daß Charitys Behandlung sie vor einem Zusammenbruch bewahrt hatte.
Zuerst vermochte sie kaum zu glauben, daß sie nun frei war, ihr eigenes Leben zu führen, ohne ihren Vater nach ihr rufen zu hören, ohne jede Minute des Tages an seine Bequemlichkeiten zu denken. Aber es gab ihrer Meinung nach viele Dinge, die nur sie tun konnte. Während sie aufstand und sich ankleidete, fragte sie sich, ob der neue Earl sich wohl wie sein Vater benehmen würde.
Nach seiner langen Abwesenheit würde er sicher den Wunsch haben, sich für die Vergangenheit zu entschädigen und seine Stellung als Oberhaupt der Familie einzunehmen.
Der verstorbene Earl hatte äußerlich und charaktermäßig etwas von einem Patriarchen aus dem Alten Testament gehabt. An seinen Sohn konnte Prunella sich kaum erinnern. Sie nahm jedoch an, daß er der langen Reihe der Winslows folgen würde, die Winslow Hall zu einem bedeutenden Ort, nicht nur für die Familie, sondern auch für die nähere und weitere Umgebung gemacht hatten.
Sie knöpfte gerade ihr Kleid zu, als sie sich plötzlich an etwas erinnerte, was Charity gesagt hatte.
» . . . nur um nachzuschauen, was er verkaufen kann.«
Die Worte schienen im Raum widerzuhallen. Wenn dem so war, stand dem neuen Earl of Winslow ein sehr unangenehmer Schock bevor.
Zwei Stunden später stieg Prunella in die zwar altmodische, aber gut gefederte Kutsche, die von zwei schönen Pferden gezogen wurde, und machte sich auf den Weg nach Winslow Hall.
Dawson, der alte Kutscher, zeigte keine Anzeichen von Überraschung, als sie ihm ihr Ziel nannte. Insgeheim fragte sie sich, ob er wohl von der Rückkehr des jungen Earls wußte.
Neuigkeiten über ihn pflegten sich wie ein Buschfeuer auszubreiten. Was Mrs. Goodwin wußte, mußte eigentlich inzwischen allseits bekannt sein.
Prunella stieß einen Seufzer aus.
Das bevorstehende Gespräch würde gewiß nicht einfach werden. Sie wünschte, jemand hätte sie begleitet, um ihr notfalls beizustehen.
Nanette konnte man dazu nicht gebrauchen, schon gar nicht, nachdem sie heute morgen einen Brief von Pascoe erhalten hatte. Außerdem war es besser, wenn das, was sie dem Earl sagen wollte, ihrer Schwester nicht zu Ohren kam.
Natürlich hätte sie Charity mitnehmen können. Prunella konnte sich hingegen nicht vorstellen, daß bissige Bemerkungen über »Mr. Geralds« Vergangenheit die Situation in irgendeiner Beziehung erleichtern würden.
Es war schwer vorauszusehen, welche Haltung er an den Tag legen würde.
Die Kutsche fuhr durch das kleine Dorf mit dem schwarzweißen Fachwerk-Gasthof, vorbei an dem kreisrunden Teich, auf dem immer Enten schwammen, und den Häusern, die ein früherer Earl in wohlhabenden Tagen gebaut hatte.
Die Pferde trabten durch das Tor, zu dessen beiden Seiten steinerne Pförtnerhäuschen standen. Sie