Wenn das solcherart skizzierte Phänomen der Verhexung und ihrer Gegenmaßnahmen tatsächlich eine frappante Verbreitung und Ähnlichkeit in ganz Schwarzafrika aufweist (wie erwähnte Autoren nahe legen), es sich aber andererseits nicht einfach auf gewisse spezifische soziale, ökonomische oder politische Faktoren zurückführen lässt, stellt sich die Frage, ob es denn ein allgemeineres Denk- und Wahrnehmungsmuster, eine idéo-logie im Sinne Marc Augés14 gibt, in das es eingebettet ist, und das, wenn es nicht ein Reflex der Sozialbeziehungen ist, diese vielleicht sogar im Gegenteil strukturiert. Nach Augé ist das „Heidentum“ oder die „heidnische Logik“ (womit primär einmal alle polytheistischen Glaubenssysteme zu verstehen sind, aber auch durchaus eine „heidnische“ Schicht in monotheistischen Gesellschaften und sogar Individuen15) durch folgende Merkmale charakterisiert, beziehungsweise vom Christentum und andern Monotheismen abgegrenzt:
1 „Es ist niemals dualistisch und stellt weder den Geist dem Körper noch den Glauben dem Wissen entgegen.“16
2 „Gleichsetzung der Sinnbezüge mit den Machtbeziehungen und dieser mit jenen, die keinen Platz für einen dritten Begriff lässt, die Moral, die ihnen äußerlich wäre.“17
3 „Es postuliert eine Kontinuität zwischen biologischer und sozialer Ordnung, die einerseits die Opposition zwischen dem individuellen Leben und der Kollektivität, innerhalb derer es sich abspielt, relativiert und andererseits dazu tendiert, aus jedem individuellen oder gesellschaftlichen Problem ein Lektüreproblem zu machen: Es postuliert, dass alle Ereignisse zeichenhaft und alle Zeichen bedeutungsvoll sind. Das Heil, die Transzendenz und das Mysterium sind ihm wesensmäßig fremd. Folglich nimmt es das Neue interessiert und tolerant auf; stets bereit, die Liste der Götter zu verlängern, denkt es additiv und alternativ, nicht synthetisch.“18„Für bestimmte Kulturen, die ich vorschlage «heidnisch» zu nennen, ist die Definition der Person untrennbar verbunden mit der Beziehung zum Andern, in Bezug auf Erblichkeit, Einfluss, Zusammensetzung und Schicksal.“19
Etwas zugespitzt könnte man also zusammenfassen: weder eine scharfe Trennung von Geistigem (Ideellem, Seelischem, Spirituellem, Glauben) und Körperlichem (Materiellem, Wissen), noch von Moral (Sinn) und Macht, noch von Subjekt (eigenem) und anderem.20
Diese Skizzierung einer heidnischen Logik scheint mir nun einen interessanten Weg zu eröffnen, das Phänomen der Hexerei in einen größeren Kontext von kulturellen Vorstellungen und sozialen Strukturen zu stellen und es in einer nichtreduktionistischen Art in Bezug zu setzen zu Fragen der Ökonomie und der Politik.
Folgende Zusammenhänge scheinen mir in diesem Zusammenhang wichtig (und werden sich anhand des gesammelten Materials veranschaulichen lassen):
Politischer Aspekt: Während bei uns die Macht in gewisser Hinsicht immer suspekt ist und unter Legitimationsdruck steht, ist das Machtstreben, die Aufstiegsmentalität bzw. die soziale Mobilität selbst nicht erklärungsbedürftig und nicht infrage gestellt, im Gegenteil. In Afrika stellt sich das Verhältnis genau umgekehrt dar: Ein Machtträger ist im Prinzip schon dadurch legitimiert, dass er die Macht besitzt. Macht legitimiert sich gewissermaßen durch sich selbst, durch ihre Präsenz und Realität. Demgegenüber sind Statusveränderungen suspekt und werden mit Hexerei in Verbindung gebracht: Dem Aufsteiger wird magische Bereicherung unterstellt, während dem Absteiger missglückte Magie nachgesagt wird, oder aber er wird gerade wegen seines Unglücks und des damit verbundenen Ressentiments als potenzieller frustrierter Rächer und Hexer gefürchtet. Plötzlicher Misserfolg, aber noch mehr plötzlicher Erfolg werden als erklärungsbedürftig (als „Lektüreproblem“ in der Begrifflichkeit Augés) betrachtet. Der Begriff der puissance oder force ist in den emischen Theorien über Hexerei und Heilung zentral. Das wurde schon von den frühen Afrikaforschern und Missionaren erkannt, jedoch nur unter philosophisch-religiösem Gesichtspunkt („Lebenskraft“) und nicht unter seinem politischen („Macht“). Unter diesem Blickwinkel hat das System der Hexerei eine konservative, normative Funktion, die die Asozialen am oberen und unteren Rand der gesellschaftlichen Hierarchie „zurückpfeift“ (Status quo erhaltend, „kalt“ im Sinne Lévi-Strauss’): Einerseits werden Aufstieg und Kompetition verhindert (der allzu Ambitionierte oder Erfolgreiche wird der Hexerei verdächtigt oder aber ist der Angst ausgesetzt, von einem Neider verhext zu werden), andererseits werden die „Asozialen“ am unteren Rand der Gesellschaft einem integrativen, oft aber auch endgültig marginalisierenden Druck ausgesetzt (dem Erfolg- und Machtlosen wird die Schädigung des Starken aus Neidmotiven vorgeworfen – z. B. Kindstod in einer angesehenen Familie, der auf die Hexerei einer alten, kinderlosen Witwe zurückgeführt wird). Der etablierte Mächtige kann demgegenüber aus dem Ruch, über besondere, magische Kräfte zu verfügen, zusätzlich einschüchternde Legitimität beziehen (so wurden manche charismatischen Politiker wie etwa Houphouët-Boigny gelegentlich in einer bewundernd-furchtsamen Art auch als sorciers bezeichnet: man nahm an, dass Gewehrkugeln an ihm abprallen würden).
Ökonomischer Aspekt: Hexerei hat immer eine ökonomische Dimension – sie wird als pervertiertes Verhältnis von Eigen und Nicht-Eigen betrachtet. Analog zum politischen Aspekt könnte man sagen: In Afrika wird Reichtum – im Gegensatz zu unserer christlichen Kultur – nicht moralisch infrage gestellt, aber ähnlich wie bei der Macht versucht man, an ihm zu partizipieren. Wie Augé sagt: Die Moral steht weder der Macht noch dem Besitz entgegen; der „Starke“ hat das Recht auf seiner Seite. Dafür lastet der Imperativ des Teilens umso schwerer auf ihm (Position des grand-frère, Patron-Klient-Verhältnis). Kommt er dieser egalisierenden Forderung nicht nach, zieht er den Neid auf sich, und das heißt, eine drohende Verhexung. Vielleicht gerade weil der Reichtum nicht moralisch entwertet werden kann, ist der Neid umso größer, und weil die kapitalistischen psycho-ökonomischen Schranken zwischen Mein und Dein (noch) nicht wirklich aufgerichtet sind (auch als Eigenlegitimation), prallt der Neid nicht an der Indifferenz des Beneideten ab, sondern richtet dort psychisch etwas an, was in Afrika eben „Verhexung“ genannt wird.
Psychologischer Aspekt: Nun partizipiert heute in Afrika natürlich ein großer Teil der Bevölkerung sowohl an einem traditional-egalitären Wertesystem (wer sich über die Gemeinschaft bzw. seine zugeschriebene Position zu erheben versucht, wird bestraft, geächtet, beneidet, „verhext“) als auch an städtisch-kapitalistischen Erwartungen (Bildungserwerb, sozialer Aufstieg, politische Partizipation, Konkurrenz, Kapitalakkumulation). Nicht umsonst ist der häufigste Anlass einer Verhexung der Besuch eines „Aufsteigers“ in seinem Heimatdorf. Pointiert formuliert: In der Stadt wird erwartet, dass er spart, akkumuliert und langfristig investiert, auf dem Dorf wird jeder Franc, der nicht geteilt wird, als vorenthalten und asozial betrachtet und geächtet.21 Psychologisch müsste man von einer Doublebind-Situation sprechen: „Du sollst es einmal weiter bringen als dein Vater“ versus „Du darfst deinen Vater nicht überholen“; „Je weniger du (aus-)gibst, umso mehr hast du“ versus „Je mehr du gibst, umso mehr wirst du bekommen“ usw. Es fällt nicht schwer, diese paradoxen kommunikativen Prädispositionen der Verhexung aus psychologischer Sicht als pathogen oder zumindest als eminent Stress auslösend zu erkennen. Der Heiler schafft durch die Interpretation dieser Probleme als „Verhexung“ zwar individuelle Erleichterung, aber er tritt gewissermaßen als Retter von etwas auf, dessen Hauptproduzent er zugleich ist. Durch den angebotenen Schutz vor Verhexung perpetuiert er zugleich dieses System.
Hexerei ist gruppenpsychologisch nur verständlich, wenn man diesen radikalen Bezug zum andern in Rechnung stellt, wie er sich in der Neidproblematik manifestiert („das Übel kommt immer von außen“), aber auch in den traditionellen afrikanischen Vorstellungen über die Psyche als Konglomerat zwischen individuellen und kollektiven Anteilen, das die Grenzen von Ich/Nicht-Ich, Körper/Psyche, Biologie/Psychologie/Soziologie überscheitet (Problem der Ahnenseele, des „Gruppen-Ich“, der „(In-)Dividualität“, der Anwesenheit der Toten, des „Double“, des „Seelenfressers“, des Fetischs). In diesem Sinne greift es psychologisch zu kurz, Hexerei nur individualistisch als Projektion, Phantasie, Paranoia oder Regression zu interpretieren. Hexerei mag aus „materialistischer“ Sicht inexistent sein, aber sie deswegen einfach als phantasmatisch abzutun und gewissermaßen