Jean-Claude ist ein Yacouba. Doch ich habe in den folgenden Jahren ähnliche Beschreibungen in den verschiedensten Regionen und bei unterschiedlichsten Leuten der ganzen Elfenbeinküste, aber auch in andern Ländern Westafrikas gehört.
Wie man aus meiner Frage heraushört, verstand ich Jean-Claudes Gedankengang, dass „Hexerei“ entwicklungshemmend sei, weil es den Ehrgeiz einschüchtert. Aber ich tendierte zu jener Zeit noch dazu, Hexerei als einen Aberglauben zu betrachten. Wäre Hexerei bloß eine Angelegenheit des Glaubens, wäre es für den Einzelnen prinzipiell möglich, das Problem zu überwinden. Heute stehe ich Jean-Claudes (oder der „emischen“) Sicht näher: Hexerei ist eine Realität, auch wenn ich vielleicht einschränken würde: eine soziale Realität. Das heißt: Auch wenn wir den Glauben an Versammlungen, wo die hoffnungsvollsten Familienmitglieder verzehrt werden, nicht teilen, so ist doch die Feststellung der zerstörerischen Kraft des Neides in der afrikanischen Gesellschaft nicht zu leugnen. Diese Kraft ist aber etwas anderes als eine Angelegenheit des individuellen (Irr-)Glaubens. Sie betrifft die Ebene der sozialen Tatsachen und Strukturen, der Soziologie. Dass es nicht einfach um (Individual-)Psychologisches geht, zeigt schon der Sachverhalt, dass jemand wie Jean-Claude das Problem haarscharf erfasst und ihm trotzdem nicht entkommt.
Offizielle Hexereianklagen können heute nicht mehr erhoben werden, Ordale sind in den meisten afrikanischen Staaten verboten. Der Hexereidiskurs ist inoffiziell geworden, dadurch aber auch entgrenzter, diffuser und allgemeiner. Seine Domänen sind heute, neben dem Psychischen (den Vermutungen und Ängsten) das Gerücht, das Geschwätz und die Behandlungszimmer der traditionellen Heiler. Aber die Weltsicht, die in der Hexerei zum Ausdruck kommt (die impliziert, dass individueller Erfolg und sozialer Aufstieg gefährlich sind, weil sie – potenziell tödliche – Neider anziehen), ist immer noch allgegenwärtig, auch wenn das Wort „Hexerei“ dabei gar nicht verwendet wird. Ich möchte das an einem weiteren kleinen Fallbeispiel veranschaulichen:
Abou ist ein junger Mann aus der Gegend von Odienné, der in Bouaké eine cabine téléphonique bedient. Eines Tages sagte er mir:
„Es ist besser nicht zu arbeiten, als zu arbeiten.“
„Warum?“, fragte ich.
„Weil es auf dasselbe rauskommt. Jeden Tag kommen zehn Leute, um mich anzupumpen. Weitere zehn kommen, um auf Kredit zu telefonieren. Ils me fatiguent jusqu’à ce que j’accepte. Es ist so viel Bargeld in der Schublade, ich kann nicht sagen, ich hätte nichts. Und ich kann auch nicht abhauen. Sie können mich den ganzen Tag bearbeiten, bis sie kriegen, was sie wollen. Und Ende des Monats habe ich zwar gegessen, aber ich stehe ohne einen Sou da, genau so wie die, die mich angepumpt haben und selber nicht arbeiten. Ich möchte nach London gehen. Du siehst mich seit zwei Jahren jeden Tag hier arbeiten, aber ich bin keinen Zentimeter vorwärtsgekommen. Ich muss weg.“
Wie zur Illustration dieser Situation hat Abou zwei Sprüche auf die Wand hinter sich geschrieben:
„L’enfer c’est les autres“ („Die Hölle, das sind die andern“) und „L’homme n’est rien sans l’homme„ („Der Mensch ist nichts ohne den Menschen“).
Man kann das afrikanische Dilemma wohl kaum prägnanter ausdrücken. Abou hat eigentlich alle Voraussetzungen und alles getan, um weiterzukommen. Er zeigt Initiative. Neben seinem Job in der Kabine unterhält er einen Kleinhandel mit allem Möglichem. Er ist intelligent, sprachgewandt und recht gebildet. Er ist aufgeklärter Muslim. Er hat die Provinz verlassen, um in die Großstadt zu kommen, wo er nicht mehr den engen Beschränkungen und Verpflichtungen der Familie untersteht. Trotzdem hat er nicht alle Verbindungen gekappt. Er wohnt bei seinem Onkel und geht von Zeit zu Zeit ins Dorf auf Besuch. Er ist umgänglich, gesprächig, allseits beliebt. Er ist weder verschwenderisch noch geizig. Er ist ledig und hat noch keine Kinder zu unterhalten. Er trinkt nicht und raucht nicht. Mit andern Worten: In einem friedlichen, recht prosperierenden Land wie der Elfenbeinküste müsste ein Mann wie er eigentlich weiterkommen. Warum kommt er auf keinen grünen Zweig? Er sagt es selber: Es liegt an der Art der herrschenden Sozialbeziehungen, und zwar vor allem, insofern sie Ökonomisches betreffen, konkret: an der Pflicht zu teilen und der Unmöglichkeit zu sparen.
Um die Unterschiede zum europäischen System noch schärfer herauszuarbeiten, muss man sich fragen, was denn passieren würde, verweigerte Abou Kredite und Geschenke. „On va trop me fatiguer“, sagt er selbst. „Man wird mich ermüden, fertig machen.“ Das ist buchstäblich zu nehmen. All die selbst ernannten petits-frères würden den lieben langen Tag in seiner Kabine sitzen und ihn mit ihrem Gejammer an den Rand des Nervenzusammenbruchs treiben. Er kann ja nicht weg, er ist ihnen ausgeliefert! „On va gâter mon nom“, sagt er auch. „Man wird meinen Namen in den Schmutz ziehen.“ Das hieße, die Kunden blieben aus. Es gibt genug andere Kabinen in der Umgebung.
Aber vor allem kann einen jemand, den man erzürnt hat, verhexen.
„Die Hexen sind überall, du kannst ihnen nicht entfliehen. In Windeseile fliegen sie von hier nach Paris.“
„Was kann man dagegen tun?“
„Vor allem musst du freundlich sein mit allen. Wenn dich jemand um einen Gefallen bittet, solltest du ihn nicht ausschlagen. Du musst immer daran denken, dass es dir besser geht als vielen anderen. Vor allem in der Familie. Die Leute, die Angst vor Hexen haben, sind vor allem Junge, die in die Stadt gekommen sind und sich seit Jahren nicht mehr im Dorf haben blicken lassen. Jetzt schämen sie sich. Man muss für die ärmeren Verwandten sorgen, sonst tun sie dir etwas an. Ich schütze mich auch mit einem Koranvers, den mir mein Onkel gegeben hat. Manchmal schreibe ich auch Koranverse auf die Tafel, wasche sie ab und trinke das Wasser. Es ist schwierig, hier vorwärts zu kommen. Ich kenne einen Ort, wo neunzig Prozent der Jungen ausgewandert sind. Immer will jemand etwas von dir, und wenn du es ausschlägst, machen sie dir das Leben zur Hölle. In Afrika arm geboren zu werden, heißt arm zu sterben. Der Faule ist schlauer als der Fleißige, denn beide bringen es gleich wenig weit, bloß dass der eine ein leichteres Leben hat als der andere.“
Das Schicksal Abous erinnert an jene moderne Legende, die in verschiedenen afrikanischen Ländern kursiert und von einem Mann erzählt, der Gott begegnete. Der Allmächtige versprach, ihm zu geben, was immer er begehrte – und seinem Bruder das Doppelte. Der Mann dachte an eine Frau, ein Haus, ein Auto, aber die Vorstellung, dass sein Bruder zwei davon hätte, war ihm unerträglich. Schließlich bat er Gott: „Stich mir ein Auge aus.“
Um diese Thematik des Neids kreist – nebst anderem – die vorliegende Studie. Sie beruht auf Feldforschungen, die ich im September/Oktober 1994 in der Elfenbeinküste begann, im März/April 1996 ebenda fortführte und vom August 1997 bis Sommer 2000 in einem größeren Rahmen, der auch Mali, Burkina Faso, Guinea und Senegal umfasste, weiterverfolgte.
Hexerei ist ein fait social total. Die sozialen, ökonomischen und zum Teil auch die politischen Aspekte lassen sich tagtäglich und überall beobachten. Die religiöse Seite nicht, denn sie hat ihre genau zugewiesenen Orte, Personen und eine abgestufte Geheimhaltungspraxis. Einen großen Teil meiner Forschungszeit verbrachte ich mit den dafür zuständigen Spezialisten: Féticheur, Heiler, Priesterin, Tradi-Practicien, Komian, Marabout oder wie immer man diese Fachleute für Hexerei, Antihexerei und Geister, aber auch für Krankheiten, Heilpflanzen und Behandlungen nennen will. Die zwei Menschen, denen ich in