Die Ökonomie der Hexerei. David Signer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: David Signer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Год издания: 0
isbn: 9783779505068
Скачать книгу
sie sich an sie.

      „Deine Familie hat dich nötig. Gibt es irgendein Ereignis in deiner Familie, ein Begräbnis oder etwas Ähnliches?“

      „Ja, mein Bruder hat gestern geheiratet.“

      „Deine Familie ist eurer Verbindung gegenüber nicht unbedingt positiv eingestellt.“

      Dann sagte sie: „In wenigen Stunden wird jemand im Dorf sterben.“

      Es gab einen gewissen Aufruhr unter den Anwesenden, es wurde einiges ohne Übersetzung gesagt, das uns offenbar nicht betraf. Dann kam sie wieder auf uns zu sprechen.

      „Ihr wohnt in der Nähe des Wassers.“

      „Ja, das stimmt, wir wohnen gleich am Fluss.“

      „Wasser ist wichtig für dich. Es hat einen Geist in diesem Fluss, der dir gut gesinnt ist und dich beschützt. Du musst ihm ein Opfer bringen. Töte einen weißen Hahn, nachdem du ihm deine Wünsche gesagt hast. Lasse sein Blut ins Wasser fließen. Nachher wird sich vieles zum Bessern wenden. Du kommst wieder zu mir, nachdem du das gemacht hast, und ich sage dir Weiteres.“

      „Ich habe noch nie ein Huhn geopfert; ich weiß nicht, wie man das macht.“

      „Du kannst den Hahn auch durch jemand andern töten lassen oder du sagst dem Hahn einfach deine Wünsche und lässt ihn laufen. Aber wir können es nicht hier für dich machen, du musst es bei dir zu Hause tun, für deinen Flussgeist. Im Übrigen: Ihr werdet sicher und gesund nach Hause reisen. Habt ihr noch Fragen? Weil bald jemand sterben wird, verschwinden die Geister.“

      Dann wollte sie noch etwas zu Mathurin sagen. Er war aber nicht da. Sie ließ ihm ausrichten, dass seine Frau weiterhin versuche, ihn zu provozieren.

      Die Séance war zu Ende, wir gingen mit der Interpretin hinaus. Sie richtete Mathurin seine Wahrsagung aus, und er murmelte bloß, zu mir gewandt: „Wie wahr, wie wahr!“

      Uns teilte sie noch mit, dass wir Ahissia auch Fragen per Post schicken könnten, mit einem beigelegten Foto.

      „Sie ist jetzt eure Schutzmutter.“

      Dann, wie üblich hier, verließen wir den Hof ohne besondere Formalitäten und ohne Ahissia noch einmal gesehen zu haben. Wir gingen mit dem „Intellektuellen“ den Weg hinunter zu seinem Elternhaus, das er uns noch zeigen wollte. Plötzlich hob Geschrei hinter uns an. Oben am Weg stand die Interpretin und beschimpfte Mathurin im Namen der Priesterin, sodass es das halbe Dorf hören musste. Was war los? Ahissia, beziehungsweise die Geister, waren äußerst gekränkt, dass es Mathurin unterlassen hatte, zur Aussage über seine Frau Stellung zu beziehen. Ahissia hatte immer noch im Hausinnern mit den Geistern auf ihn gewartet, während wir uns auf den Weg gemacht hatten. Wir gingen noch einmal zurück, um uns zu entschuldigen.

      Während wir dann mit dem Intellektuellen ein wenig durchs Dorf spazierten, gab er noch folgende Kostprobe vom Können Ahissias:

      „Kürzlich starb jemand im Dorf. Man musste mehrere Tage warten, bis alle Verwandten zum Begräbnis eingetroffen waren. Die Leiche begann schon zu stinken. Da transportierte die Zauberin den Gestank in ein anderes Dorf. Wirklich konnten die Leute dort dann nur noch mit dem Taschentuch vor dem Gesicht herumgehen, während hier die Luft rein wie nach einem Regenguss war.“

      „Wobei“, gab Mathurin zu bedenken, „man das einfach so sagt. In Wirklichkeit hat sie wahrscheinlich den Körper magisch dorthin transportiert, und was wir hier sahen, sah nur aus wie der Körper dieser Leiche.“

      Ich fragte den Intellektuellen, ob er nicht auch als Féticheur arbeiten könnte. Er antwortete nur, er habe die dazu nötige „Gabe“ nicht. Später fragte ich Mathurin, warum es in Tengouélan keine praktizierenden Männer gebe.

      „Die Frauen können besser ein Geheimnis hüten“, antwortete er. „Es ist einfacher, zum Beispiel seine Totempflanze zu vermeiden, wenn man immer zu Hause ist. Der Mann ist in den Straßen, dann sieht er irgendwo Essen an einem Stand, das ihm verboten ist, aber er denkt: Ach was. Dann verliert er seine Sehergabe. Die Frauen können besser gehorchen.“

      Auf der Rückfahrt passierten wir eine Unfallstelle: Ein Leichenwagen war mit einem Lastwagen zusammengestoßen. Und das Ganze geschah gleich neben dem Friedhof – das konnte kein Zufall sein! Mathurin, der die Geschichte offenbar kannte, sagte:

      „Der Chauffeur des Leichenwagens hat als Einziger überlebt. Die beiden Mitfahrer waren Angehörige des Verstorbenen, der hinten im Sarg lag. Die zwei waren offensichtlich schuld am Tod des Verstorbenen, der sich so gerächt hat. Deshalb geschah es auch gleich neben dem Friedhof, und deshalb überlebte der Fahrer, der nichts damit zu tun hatte.“

      Das ist ein schönes Beispiel für das, was Lévi-Strauss dem Zauberer und Schamanen (aber auch dem Psychopathen) zuschreibt: dem Alltagsdenken, das immer unter einem Mangel an Sinn angesichts der ärmlichen Wirklichkeit leidet, ein Übermaß an Signifikantem, Interpretation und Affektivität entgegenzustellen (allerdings keine individuell-zufälligen Bedeutungen, sondern kulturell normierte, die eine Situation, wenn auch nicht bereinigen, so doch an ein vordefiniertes Problem anpassen).23

      Wieder in Abengourou tranken wir mit Mathurin noch ein Bier in einem „Maquis“ und er erzählte die letzte seiner phantastischen Geschichten:

      „Ein alter Zauberer in Tengouélan hatte einen Sohn, der seit dreißig Jahren in Paris lebte. Er vermisste ihn. So besuchte er ihn eines Nachts. Plötzlich stand er in der Wohnung. Der Sohn war nicht zu Hause. Der Alte schaute sich die Zimmer und die Kinder an, dann ging er wieder. Nach zehn Minuten war er zurück in seinem Dorf.

      Die Frau des Sohnes hatte ihn aber gesehen und heimlich fotografiert. Dann kam der Sohn nach Hause. Seine Frau erzählte ihm von diesem seltsamen Besuch. Er glaubte ihr nicht.

      ‚Das ist unmöglich‘, sagte er. ‚Mein Vater hat kein Geld, er kann nicht Französisch, er wäre nicht fähig, ein Flugzeug und eine Metro zu benützen.‘

      Aber die Frau beschrieb den Vater ganz genau und zeigte das Foto. Ein Jahr später kam der Sohn auf Besuch nach Tengouélan. Es wurde eine Versammlung einberufen und der Sohn erzählte den Alten von diesem Besuch und reichte auch das Foto herum. Aber jeder im Dorf bestätigte, der Vater sei nie weggewesen. Nicht einmal die Mutter hatte etwas bemerkt. Es war eben sein Double, das sich auf die Reise gemacht hatte. Er hatte die Reise geträumt. Das, was wir träumen, ist das, was unser Double erlebt. Als wir heute morgen noch unterwegs waren, traf unser Double bereits bei der Fèticheuse ein, und sie sah, dass wir kommen. Deshalb mussten wir uns auch nicht anmelden. Aber wir können das Double nicht kontrollieren. Oder nur wenige können es. Das Double kommandiert das Bewusstsein, nicht umgekehrt. Je suis le double – ich bin das Double/ich folge dem Double ...“24

      Nun, was die Rückreise betrifft: Wir kamen tatsächlich, wie vorausgesagt, sicher und gesund wieder nach Hause. Was den Todesfall im Dorf angeht: Ich bat Mathurin, mich darüber zu unterrichten; er schrieb nie etwas Diesbezügliches.

      Wieder in der Schweiz, besorgte ich, wie angeordnet, einen weißen Hahn, ging mit ihm an den Fluss (zu einer Tageszeit, wo ich mit möglichst wenig Fußgängern rechnen konnte), und bekannte ihm meine Wünsche. Ich ließ ihn dann allerdings nicht frei, sondern gab ihn dem Besitzer zurück.

      Die Wahrsagung arbeitet reflexiv, rekonstrukiv: Sie lässt die Vergangenheit in einem ganz bestimmten Licht erscheinen (indem sie zum Beispiel Unglücksfälle in eine Serie stellt und als systematisches Werk einer Hexe beschreibt). Aber die Wahrsagungen wirken auch in die Zukunft: Sie bereiten neuen Ereignissen den Boden der Interpretation, noch bevor sie eintreten oder sie machen sie überhaupt erst als solche wahrnehmbar, das heißt real. Das muss nicht bewusst geschehen, ja funktioniert wahrscheinlich umso besser, je weniger bewusst.

      Beispielsweise hätte die Behauptung Ahissias, Nadjas Familie sei gegen unsere Verbindung, dazu führen können, dass ich vermehrt auf jedes negative diesbezügliche Zeichen seitens der Familie pedantisch geachtet und ihm Gewicht beigemessen hätte. Mit meiner feindseligen Reaktion darauf hätte ich einen Teufelskreis der Ablehnung in Gang gesetzt, sodass sich