Indessen wurde Artemis in sehr vielen Fällen auch allein und als selbständige Gottheit gedacht und gerade da pflegt die ihr eigenthümliche Natur am meisten hervorzutreten. Es ist die einer nächtlichen Himmels- und Lichtgöttin, daher sie nicht allein mit Pfeil und Bogen, sondern auch mit der Fackel (φωσφόρος σελασφόρος) und mit dem Polos ausgestattet wurde, auch mit der Spindel (χρυσηλάκατος, H. in Ven. 16. 118, H. 27, 1), welche obwohl den meisten weiblichen Gottheiten eigentümlich, doch immer eine schaffende und emsig geschäftige Thätigkeit ausdrückt. So wirkt und webt nun auch Artemis und zwar in Wald und Busch, in Quellen und Wiesen, denn dieses idyllische Stillleben der freien Natur in Bergen und Gründen ist immer ihr eigentliches Gebiet, weil die Vegetation und vieles Andere in den südlichen Ländern in der frischen Nacht- und Morgenluft und unter den stillen Ergüssen des Mondlichtes am besten gedeiht. Namentlich galt der Thau für eine Gabe des Mondes, daher Herse, die personificirte Thauspenderin, von Alkman eine Tochter des Zeus und der Selene genannt wurde; wie man denn überhaupt dem Monde eine das feuchte Element aus Quellen und Flüssen an sich ziehende und in Regen Thau und Nebel wieder zur Erde hinabsendende Kraft zuschrieb643. Daher Artemis als rüstige Jägerin zwar vorzüglich in den Bergen und Wäldern heimisch und eine Göttin der gesammten Thierwelt ist, doch dringen ihre goldenen Pfeile d. h. die Strahlen des Mondlichtes auch über das Meer (Hom. H. 27) und sie waltet so gut im Feuchten als in den Bergen. Ueberall war das sehr bestimmt ausgesprochen durch ihre Verehrung an Flüssen und Quellen, auf feuchten Wiesen und an Häfen, als ποταμία, λιμναία, λιμνᾶτις, λιμενοσκόπος u. s. w.644. Daher ihre beständige Umgebung mit Nymphen, den Nymphen der Berge und der Flüsse, mit denen sie bald jagt bald in schattigen Hainen und auf blumigen Wiesengründen tanzt und spielt und Blumen sammelt oder in den Quellen badet. Dabei dachte man sie sich sehr schön, daher man sie schlechthin καλλίστη zu nennen und die schönsten Frauen und Jungfrauen mit der Artemis zu vergleichen pflegte645, aber als strenge und jungfräulich herbe Schönheit, von hoher Gestalt und von ragendem Wuchse, so daß sie unter den umgebenden Nymphen immer die schönste und die ragendste ist. Gewöhnlich wurde sie jagend oder sonst in rascher Bewegung gedacht, hoch aufgeschürzt einherschreitend, bisweilen auch zu Wagen oder zu Pferde646, als hyperboreische Lichtgöttin von Greifen getragen oder gezogen, ausnahmsweise auch wohl beflügelt.
Es scheint daß man der Artemis in Athen zu Anfang jedes Monates und am sechsten Monatstage opferte647. Unter den Monaten aber war ihr insbesondere der der Frühlingsnachtgleiche heilig, welcher bei den Ioniern gewöhnlich Artemision, bei den Doriern und übrigen Griechen Artemisios, in Athen nach dem ihr geweiheten Thiere und der Jagd desselben Elaphebolion hieß. Denn die Hirschkuh galt durch ganz Griechenland für das ihr liebste Thier648, daher sie in Olympia und Elis den Beinamen ἐλαφία oder ἐλαφιαία führte. Doch waren ihr als einer Göttin der Berge, der Wälder und der Jagd und Viehzucht überhaupt auch die Ziegen und Böcke649 und die wilden Thiere geweiht, in Aetolien und andern Gegenden der wilde Eber, in Arkadien und in den attischen Culten der Artemis Brauronia und Munychia die Bärin, das starke Thier des Waldes, welches mit jedem Frühjahr von neuem erwacht, so daß in diesen Gottesdiensten sogar Artemis selbst oder ihre Priesterinnen unter dem Sinnbilde der Bärin gedacht wurden. Auch drückt sich in dieser Symbolik der sie umgebenden Thierwelt der Wechsel ihrer eignen Natur zwischen bald freundlicheren bald zürnenden Stimmungen aus, da man namentlich in Arkadien Aetolien und an den Küsten der griechischen Gewässer viel vom Zorn der Artemis zu erzählen wußte. So sandte sie den Aetolern den wüthenden Eber in ihre Saaten, von dem die kalydonische Sage erzählte, und die griechische Flotte hielt sie durch Stürme im Hafen von Aulis zurück, weil Agamemnon ihre heilige Hirschkuh getödtet hatte. Aber gewöhnlich wendet sie sich von der Jagd zu Spiel und Tanz, wie Artemis denn ohne Tanz gar nicht zu denken war und auch als eine musikalische Göttin, welche sich wie Apollo der Leier oder der Flöte und des Gesanges erfreut, in Arkadien und sonst überall verehrt und von der Landesjugend mit entsprechenden Gesängen und Tänzen gefeiert wurde650. Dann pflegen sich die Musen und Chariten und Aphrodite und Athena und andere schöne Göttinnen und Nymphen zu ihrem heitern Treiben zu gesellen. Aber als Bärin sucht sie scheu das Dickicht des Waldes und in manchen alterthümlichen Diensten forderte sie einst Menschenopfer.
Eine solche Göttin des freien Naturlebens hat die Anlage sich überall anzusiedeln, daher ihr Cultus über alle Berge Städte und Flüsse verbreitet war651. Aber vor allen anderen Ländern war doch Arkadien ihr liebstes Revier, das Land der ins Unendliche mannichfaltigen Bergeshöhen und Bergesthäler, mit quellenden Flüssen und schattigen Wäldern, wo Artemis vom Taygetos bis zum Erymanthos jagen konnte, umgeben von ihren Nymphen, eine Lust ihrer Mutter (Od. 6, 102). Da waren wenig Höhen und Tiefen, Wälder und Quellen, wo sie nicht ihr Heiligthum, ihre eigenthümlichen örtlichen Beinamen, ihren geweiheten Jagdbezirk, ihre heiligen Thiere hatte. Ja sie galt in Arkadien auch für die Stammmutter der Bevölkerung, nehmlich in der Sage von der Kallisto, der Tochter Lykaons, welche erst die spätere Sagendichtung aus Scheu vor dem jungfräulichen Character der Artemis