»Sie kam aus ihrem Garten
Und hielt an ihre Brust gepreßt
Zwei Früchte des Granatbaums,
Zwei glänzend große Äpfel.
Sie gab sie mir, ich nahm sie nicht.
Da schlug sie mit der Hand,
Da schlug sie mit der Hand sich an ihr Brustbein,
Schlug dreimal, sechsmal, zwölfmal,
Schlug, bis der Knochen brach.«
»Noch einmal«, forderte Stephan. Iskuhi aber war zu einer Wiederholung nicht zu bewegen, denn Gabriel Bagradian hatte leise die Tür geöffnet und war ins Zimmer getreten.
In diesen Tagen belebte sich das Haus Bagradian immer mehr. Zu jeder Mahlzeit fast kamen Gäste. Juliette und Gabriel waren zufrieden mit dieser Bewegung. Es fiel ihnen jetzt schwer, miteinander allein zu bleiben. Auch verging die Zeit viel schneller. Jeder abgelebte Tag war ein Sieg, denn er befestigte die Hoffnung, daß der Schatten des Drohenden mit ihm weitergerückt sei. Der Julimonat nahte. Wie lange konnte die Gefahr noch dauern? Gerüchte eines baldigen Friedensschlusses wurden laut. Der Friede aber war die Rettung. Auch Pastor Aram stellte sich nun regelmäßig als Gast ein. Howsannah, die sich noch immer nicht erholt hatte, bat ihn selbst darum, daß er sich um Iskuhi kümmere. Sie wußte ja, wie sehr Aram an das Leben mit der Schwester gewöhnt war und daß er unruhig wurde, wenn er Iskuhi ein paar Tage nicht sah. Doch außer Tomasian saßen noch andere häufig an Gabriels Tisch. Die Hauptgruppe bildeten Krikor und seine Trabanten. Auch der Hausgenosse des Apothekers, Gonzague Maris, befand sich darunter. Der junge Grieche war nicht allein wegen seines Klavierspiels sehr beliebt. Er besaß Augen für Schönheit und Eleganz. »Er bemerkte.« Gabriel Bagradian bemerkte nicht mehr oder nur selten. Juliettens Modekünste, die doch nur einen heimwärts gewandten Zeitvertreib ohne Zweck bedeuteten, fanden in Gonzagues aufmerksamen Augen ein beifälliges Echo. Ohne leere Schmeicheleien sagte er immer ein treffendes Wort nicht nur über Juliettens Aussehen, sondern auch über ihre Erfindungen, mit denen sie Iskuhis Reize zur Geltung brachte. Er sprach dabei nicht als ein Betörter, sondern als Eingeweihter und Künstler, während er seine stumpf gegeneinander gestellten Brauen prüfend emporzog. So gewann durch Gonzagues höheres Verständnis die Werkstatt Juliettens über den Zeitvertreib hinaus einen anerkannten Wert. Sein Schönheitssinn erstreckte sich auch auf das eigene Äußere. Gonzague war gewiß ein armer Mann und hatte wahrscheinlich auch keine rosige Vergangenheit hinter sich. Doch von dieser sprach er nie. Er wich Fragen Juliettens hierüber aus, nicht etwa aus Geheimniskrämerei oder weil er etwas zu verbergen hatte, sondern weil er alles Gewesene mit einer verächtlichen Geste als nebensächlich abzutun schien. Trotz oder gerade wegen seiner beschränkten Mittel war er, wenn er ins Haus Bagradian kam, immer sehr gut gekleidet. Da er seine europäische Garderobe in absehbarer Zeit nicht erneuern konnte, behandelte er sie mit der peinlichsten Sorgfalt. Diese gute Haltung und Kleidung Gonzagues wirkte auf Juliette höchst angenehm, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft gab. Weit weniger angenehm wirkte es aber auf die beiden Lehrer Schatakhian und Oskanian, deren Ehrgeiz und Nebenbuhlerneid es erweckte. Insbesondere Hrand Oskanian, der Knirps, wurde von eifersüchtiger Tollheit gepackt. Weder durch seine poetisch-kalligraphischen Pergamentblätter noch durch sein erhaben tönendes Schweigen war es ihm gelungen, Madame Bagradians Aufmerksamkeit auf seinen verborgenen Rang und seine innere Würde zu lenken. Der eingebildete Mischling aber hatte diese Aufmerksamkeit durch eitles Geckentum sofort erobert. Oskanian entschloß sich, auf diesem Gebiet den ungleichen Kampf aufzunehmen. Er rannte zu dem Schneider, der vor einem halben Menschenalter zwei Jahre lang in London gewirkt hatte. An der Zimmerwand dieses englischen Meisters hingen die Schnittmuster und Modebilder untadeliger Lords aus jenem Zeitalter. Mit den Stoffen freilich sah es weit magerer aus. Nur ein dünnes, graues Tuch von ehrwürdigem Alter war vorhanden, das kaum der Ehre eines Rockfutters würdig war. Desungeachtet wählte Oskanian unter den Vorbildern einen Lord aus, dessen langgestreckte Prachtgestalt von einem langen, schwalbenschwänzigen Gehrock in grauer Farbe umstrafft war. Bei der Anprobe zeigte es sich, daß der graue Schwalbenschwanz dem Zwerge bis zu den Knöcheln reichte, was er aber trotz des Schneiders Bedenken nicht tadelte. Nach Fertigstellung des Werkes steckte Oskanian eine weiße Blüte ins Knopfloch, was er seinem Lord ebenfalls abgeguckt hatte. Leider vervollkommnete er sich auch aus freien Stücken, indem er in der Apotheke des Meisters Krikor einen starken Wohlgeruch erstand, von dem er eine gute halbe Flasche auf den neuen Rock schüttete. Es gelang ihm damit tatsächlich schon in der ersten Minute, die lebhafte Aufmerksamkeit Madame Bagradians und aller übrigen zu erregen. Die Folge war, daß ihn Gabriel zur Seite nahm und freundlich bat, für ein paar Stunden einen seiner Röcke anzuziehn. Den prächtigen grauen werde man indessen zur Lüftung in den Garten hängen.
Außer den genannten Gästen kamen manchmal auch die älteren Ehepaare, wie Bedros Altouni und Mairik Antaram und Pastor Harutiun Nokhudian mit seiner ängstlichen Frau. Ter Haigasun hingegen hatte sich bisher nur ein einziges Mal eingefunden. An einem schönen Julimittag machte Gabriel Bagradian einen Vorschlag: Man solle den nächsten Abend und die nächste Nacht oben auf dem Musa Dagh verbringen, um am Morgen den Sonnenaufgang zu erleben. Dies schien ein echt europäischer Vorschlag zu sein, ein Einfall, dem Herzen eines Touristen entsprungen, der sein Leben sonst zwischen Betonmauern und Geschäftsbriefen verbringen muß. Aber hier? Die Tischgesellschaft war auch recht erstaunt über ein solches Ansinnen. Nur Hapeth Schatakhian, der sich keine Blöße geben wollte, pries das Vergnügen eines Nachtlagers im Freien. Bagradian aber enttäuschte ihn:
»Wir brauchen gar nicht im Freien zu schlafen. Ich habe nämlich in der Rumpelkammer des Hauses hier drei völlig eingerichtete Zelte entdeckt. Sie haben meinem verstorbenen Bruder gehört, der sie auf seinen großen Jagdfahrten benutzte. Zwei davon sind ganz moderne Expeditionszelte, die er aus England kommen ließ. Sie sind für je zwei oder drei Personen bestimmt. Das dritte ist ein sehr großes, prachtvolles Scheichzelt. Entweder hat es Awetis einmal von seinen Reisen mitgebracht oder stammt es gar noch aus dem Besitz unseres Großvaters ...«
Da Juliette diese Abwechslung nicht ohne Wohlwollen begrüßte und Stephan vor Freude zappelte, wurde der morgige Samstag zu dieser Unternehmung ausersehen. Apotheker Krikor, der schon alles einmal erlebt und getan hatte, dem unter der Sonne nichts neu war, vom Früchteeinkochen bis zur vergleichenden Theologie, berichtete über seine Erfahrungen, die er dereinst unter freiem Tages- und Nachthimmel gesammelt hatte. Seine schiefen Augen sahen dabei ins Leere, seine hohle Stimme brachte im ewig gleichen Tonfall zum Ausdruck, wie gering er selbst diesen winzigen Bruchteil seiner erworbenen Kenntnisse achte; nichts bewegte sich in dem gelblichen Gesicht als das rhythmisch wippende Bocksbärtchen. In früheren Jahren habe er so manche Woche auf dem Musa Dagh verlebt, ohne des Abends zu Tale zu steigen. Wer den Berg wirklich kenne (aber wer kennt ihn wirklich?), finde so manchen sicheren Unterschlupf für die Nacht, ohne eines Zeltes zu bedürfen. Er, Krikor, denke natürlich nicht nur an die allbekannte Höhle oberhalb Kebussijes. Der Volksmund fable von dem heiligen Sarkis, der auf seinem Streitroß im Kampf gegen die Heiden den Damlajik emporgesprengt sei, wobei die gewaltigen Hufe des Pferdes solche Höhlen als Spuren zurückgelassen hätten. Aber wenn der Musa Dagh auch in Wirklichkeit nichts mit dem heiligen Sarkis zu tun habe, so doch um so mehr mit Sukiassank, dem Eremiten, und anderen Einsiedlern und zurückgezogenen Mönchen, die in fernen Jahrhunderten jene Höhlen zur Wohnstatt wählten. Dem Apotheker sei es zwar nicht eingefallen, während seiner Einsiedlerwochen die geistliche Erbauung der genannten Höhlenbewohner zu suchen, ganz im Gegenteil, nichts als die Erkenntnis der Natur habe ihn damals beschäftigt. Den botanischen Bemühungen jener Wochen verdanke er einen vollständigen Thesaurus Herbarum des Musa Dagh. Blumenfreunde könnten in seinem Verzeichnis ein paar Fuchsenschwanz- und Bleiwurzgewächse dargestellt finden, über welche selbst der berühmte Linné nicht gehandelt habe. Diese Entdeckungen betreffend verwahre er auch einen Briefwechsel mit mehreren Akademiehäuptern. Leider sei die Leidenschaft für die Pflanzenwelt und deren Einteilung der Jugend abhanden gekommen, die ohne tieferen Eifer in den Tag hineinlebe. (Das ging gegen die Lehrer.) Krikor aber traue sich in seiner Eigenschaft als Apotheker selbst zu, mit den geringen Hilfsmitteln, die er besitze, den Heilkräutern des Musa Dagh all jene Arzneien abzuzapfen, die im Gebrauche sind. Er müsse gar nicht erst nach Antiochia fahren, um bei der dortigen staatlichen Stelle Chinin und andre Pillen und Pulver zu ergänzen. (Das ging gegen Bagradian, der