Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027208821
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ins Auge zu fassen, in der Académie des Sciences Morales im Laufe des Gesprächs seinen Namen zwei-, dreimal fallen lassen, und zwar in einer durchaus nicht ungünstigen Art. Kurzum, wenn man auch noch nicht behaupten kann, daß er bereits den Gipfel des Parnaß erklommen habe, er hat mit kühnem Angriff eine recht hübsche Stellung erobert, und der Erfolg, der denn doch nicht immer nur den Stürmern, Wirrköpfen und Wichtigtuern, deren Wesen eben meist nur Getu ist, zufällt, der Erfolg hat seine Mühe gelohnt.«

      Meinem Vater, der mich nun schon in einigen Jahren Akademiker werden sah, war deutlich eine Genugtuung anzumerken, die Herr von Norpois auf die Spitze trieb, indem er mir nach kurzem Zögern und in sichtlicher Berechnung der Folgen, die sein Schritt haben könnte, seine Karte reichte und sagte: »Besuchen Sie ihn doch mit meiner Empfehlung, er wird Ihnen nützliche Ratschläge geben können.« Diese Worte verursachten mir eine so peinliche Erregung wie etwa die Mitteilung, ich sollte mich morgen als Schiffsjunge auf einem Segler einschiffen.

      Meine Tante Leonie hatte mir zusammen mit vielen lästigen Gegenständen und Möbeln fast ihr ganzes flüssiges Vermögen vererbt und so nach ihrem Tode eine Zuneigung offenbart, die ich zu ihren Lebzeiten durchaus nicht vermutete. Mein Vater, der dies Vermögen bis zu meiner Mündigkeit zu verwalten hatte, befragte Herrn von Norpois über die Anlage einiger Werte. Der Botschafter riet zu schwachverzinsten Papieren, die er für besonders solide erachtete, namentlich zu Englischen Konsols und vierprozentigen Russen. »Mit diesen erstklassigen Werten«, sagte er, »sind Sie, wenn der Zinsfuß auch nicht so hoch ist, wenigstens sicher, Ihr Kapital nie gefährdet zu sehen.« Danach berichtete ihm mein Vater im großen ganzen, was er für den Rest des Geldes gekauft habe. Auf Herrn von Norpois' Zügen erschien ein kaum merkliches Glückwunschlächeln: wie alle Kapitalisten sah er in einem Vermögen etwas immer Beneidenswertes, fand es aber zartfühlend, sein Kompliment zu solch einem Besitz nur durch eine kaum eingestandene Gebärde des Verständnisses auszudrücken; da er selbst kolossal reich war, hielt er es andererseits für geschmackvoll, mit einem immerhin behaglich-munteren Rückblick auf die eigenen höheren Einkünfte die geringeren der anderen nicht unbeträchtlich zu schätzen. Er nahm keinen Anstand, meinem Vater zu der »wohlabgewogenen, überlegenen Sicherheit«, mit der er sein Portefeuille »komponiert« habe, zu gratulieren. Es war, als schriebe er den Beziehungen der Börsenpapiere zueinander und auch den einzelnen Papieren eine Art ästhetischen Rang zu. Über ein ziemlich neues unbekanntes, das mein Vater erwähnte, äußerte Herr von Norpois, ähnlich den Leuten, die ein Buch, das wir allein zu kennen glauben, auch gelesen haben: »Oh doch, ich habe mich eine Zeitlang damit unterhalten, es auf dem Kurszettel zu verfolgen, es war interessant«, und hatte dabei das retrospektiv gefesselte Lächeln eines Abonnenten, der den letzten Roman einer Revue in Fortsetzungen gelesen hat. »Ich will Ihnen nicht davon abraten, sich bei der bevorstehenden Lancierung an der Subskription zu beteiligen. Das Papier hat etwas Anziehendes, die Anteilscheine werden Ihnen zu verführerischen Preisen angeboten.« Als auf bestimmte ältere Effekten die Rede kam, an deren Namen mein Vater sich nicht genau erinnerte, da sie leicht mit denen ähnlicher Aktien zu verwechseln waren, öffnete er eine Schublade und zeigte die Papiere selbst dem Botschafter. Ihr Anblick entzückte mich: sie waren verziert mit Kathedralenpfeilern und allegorischen Figuren, wie gewisse alte Publikationen aus der Zeit der Romantik, die ich früher durchblättert hatte. Alles, was der gleichen Epoche entstammt, sieht sich ähnlich; den Künstlern, die Dichtungen einer Zeit illustrieren, geben auch die zeitgenössischen Finanzgesellschaften Aufträge: und nichts erinnert mehr an gewisse Lieferungen von Notre-Dame de Paris und von Gérard de Nervals Werken, wie ich sie im Schaufenster des Krämers von Combray gesehen, als, in ihrer rechtwinkligem, beblümten, von Flußgottheiten gestützten Einfassung, eine Aktie der Gesellschaft der Wasserwerke.

      Mein Vater hatte für meine Art, mich zu den Dingen zu stellen, eine Verachtung, die durch Zuneigung genugsam gemildert war, um meinem Tun und Treiben gegenüber eine blinde Nachsicht walten zu lassen. So trug er denn keinen Anstand, mich ein kleines Gedicht in Prosa holen zu lassen, das ich früher einmal in Combray nach einem Spaziergang verfaßt hatte. Ich hatte es in einem Zustand von schwärmerischer Begeisterung geschrieben, der, wie ich wähnte, sich den Lesern mitteilen müßte. Aber Herrn von Norpois teilte er sich nicht mit; ohne ein Wort zu sagen, gab er mir das Gedicht zurück.

      Schüchtern trat meine Mutter, die voller Ehrfurcht für des Vaters Beschäftigungen war, ins Zimmer und fragte, ob sie anrichten lassen dürfe. Sie fürchtete, eine Unterhaltung zu unterbrechen, in die sie nicht einzubeziehen war. In der Tat sprach der Vater zu Herrn von Norpois immer wieder von allerhand nützlichen Maßnahmen, die sie beide bei der nächsten Kommissionssitzung befürworten wollten, und zwar in dem besondern Ton, den zwei Kollegen in einer ungewohnten Umgebung haben: darin sind sie zwei Gymnasiasten ähnlich: ihre beruflichen Gewohnheiten schaffen ihnen gemeinsame Erinnerungen und sie entschuldigen sich, wenn sie vor andern, denen diese Dinge unzugänglich sind, darauf zurückkommen.

      Aber die vollkommene Unabhängigkeit der Gesichtsmuskeln, zu der Herr von Norpois gelangt war, erlaubte ihm zuzuhören, ohne daß er zu verstehen schien. Mein Vater verwirrte sich schließlich: »Ich hatte gedacht, die Meinung der Kommission zu befragen ...,« sagte er nach langen Umschweifen zu Herrn von Norpois. Da kamen aus dem Gesicht des adligen Virtuosen, der bisher starr wie ein Orchestermusiker verharrt hatte, der seinen Einsatz abwartet, scharf und gleichmäßig im Vortrag, eben nur das Ende des angefangenen Satzes, doch in einem neuen Tonfall, die Worte: »– deren Stimmen Sie selbstverständlich unverzüglich zusammenbringen werden, um so mehr als die Mitglieder Ihnen als Individuen bekannt sind und sich leicht zusammenbringen lassen.« Das war an und für sich nicht gerade erstaunlich als Abschluß des Satzes; aber die vorhergegangene Unbeweglichkeit ließ es kristallen, frappant, fast spöttisch sich ablösen, wie gewisse musikalische Phrasen, die in einem Konzerte von Mozart das bisher schweigsame Klavier dem Cello einwirft.

      »Nun, bist du von deiner Matinee befriedigt gewesen?« fragte mein Vater mich, während wir zu Tisch gingen: er wollte mich zur Geltung bringen und hoffte, Herr von Norpois werde meine Begeisterung zu schätzen wissen. »Er hat gerade die Berma gehört, Sie erinnern sich, wir haben darüber miteinander gesprochen«, wandte er sich dann an den Diplomaten im Tone der retrospektiven, vertraulichen Anspielung unter Fachleuten, als handle es sich um eine Sitzung der Kommission.

      »Da werden Sie entzückt gewesen sein, zumal wenn Sie die Künstlerin zum erstenmal gehört haben. Ihr Herr Vater machte sich Gedanken wegen der eventuellen Rückwirkung dieses kleinen Seitensprunges auf Ihren Gesundheitszustand, denn Sie sind, glaube ich, etwas zart, ein wenig sensibel. Aber da habe ich ihn beruhigt. Die Theater sind heut nicht mehr das, was sie vor zwanzig Jahren noch gewesen sind. Sie finden leidlich angenehme Sitze vor und einen gut durchgelüfteten Raum, obgleich wir noch viel zu tun haben, um Deutschland und England einzuholen, die uns in diesem Punkte wie in manchen andern erschreckend voran sind. Ich habe Frau Berma in Phèdre nicht gesehen, mir aber sagen lassen, daß sie darin bewunderungswert sei. Und Sie? – Natürlich waren Sie hingerissen?«

      Herr von Norpois, der tausendmal intelligenter war als ich, mochte sich dieser Wahrheit versichert haben, die ich dem Spiel der Berma nicht zu entnehmen verstanden hatte, er würde sie mir offenbaren; in meiner Antwort auf seine Frage wollte ich ihn bitten, mir zu sagen, worin diese Wahrheit bestände; so würde er mein Verlangen, die Schauspielerin zu sehen, noch nachträglich rechtfertigen. Ich hatte nur einen Augenblick, den mußte ich nutzen und meine Fragestellung auf das Wesentliche richten. Aber was war das Wesentliche? Ich wandte meine ganze Aufmerksamkeit auf die verworrenen Eindrücke, die ich davongetragen, und dachte nicht daran, vor Herrn von Norpois mich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, sondern die gewünschte Wahrheit aus ihm zu ziehen; ich versuchte nicht, die mir fehlenden Worte durch fertigübernommene Wendungen zu ersetzen; ich stotterte, und schließlich, um ihn anzureizen, das Wunderbare der Berma zu erklären, gestand ich ihm, daß ich enttäuscht gewesen sei.

      »Was sagst du da?« rief mein Vater, und es verdroß ihn der Gedanke, das Bekenntnis meiner Verständnislosigkeit könne auf Herrn von Norpois einen schlechten Eindruck machen. »Wie kannst du nur behaupten, daß du nichts davon gehabt hast? Die Großmutter hat uns erzählt, daß du kein Wort, das die Berma aussprach, verloren hast, die Augen seien dir aus dem Kopf getreten, so wie du sei kein Mensch im Saal gewesen.«

      »Gewiß, ich paßte auf, so gut ich konnte,