Und schließlich wollen wir noch sagen, wer der Marquis von Norpois war. Nachdem er vor dem Kriege bevollmächtigter Minister und am 16. Mai Botschafter gewesen, wurde er doch zum Erstaunen vieler zu wiederholten Malen beauftragt, Frankreich in außerordentlichen Missionen zu vertreten, unter anderm sogar mit der Kontrolle der ägyptischen Staatsschuldzahlung, wobei er dank seinen großen finanziellen Fähigkeiten wichtige Dienste leistete; diese Aufträge erteilten ihm radikale Kabinette, denen ein einfacher bürgerlicher Reaktionär seine Dienste verweigert haben würde und bei denen Herrn von Norpois' Vergangenheit, seine Beziehungen und Anschauungen von Rechts wegen Verdacht erregen mußten. Aber offenbar gaben sich diese weit links stehenden Minister darüber Rechenschaft, daß sie mit einer solchen Wahl ihre besondere Aufgeschlossenheit, sobald es um die höheren Interessen Frankreichs ging, bewiesen, sie überragten das Gros der Politiker (erwarben sie doch das Verdienst, selbst vom Journal des Débats als Staatsmänner anerkannt zu werden) und zogen aus dem Prestige, das sich an einen adligen Namen knüpft, und aus dem Aufsehen, das der Theatercoup einer Wahl, die keiner voraussah, erweckt, ihren Nutzen. Sie wußten, dieser Vorteil war ihnen sicher, wenn sie den Herrn von Norpois beriefen; von ihm war ein Mangel an politischer Loyalität nicht zu befürchten: seine Herkunft war ihnen nicht eine Warnung, sondern eine Garantie. Und darin sollte sich die Regierung der Republik nicht täuschen. Denn zunächst ist eine bestimmte Adelsschicht von Kindheit an erzogen, ihren Namen als einen inneren Vorteil anzusehen, den ihr nichts rauben kann (als einen Wert, den ihresgleichen und die, welche an Geburt über ihr stehen, genau schätzen können), und sie weiß, sie kann sich die – nachträglich so gut wie resultatlosen – Bemühungen vieler Bürgerlicher, nur wohlgelittene Meinungen zu bekennen und nur mit wohlgesinnten Leuten zu verkehren, ersparen, da sie ja doch ihrem Werte damit nichts hinzufügen würde. Hingegen ist diese Adelsklasse bestrebt, in den Augen der fürstlichen und herzoglichen Familien, an welche ihre eigene Stellung sie sehr nah heranrückt, zu gewinnen, und zwar, indem sie wohlweislich das Ansehen ihres Namens vermehrt um etwas, das nicht in ihm lag, etwas, das ihm unter ihresgleichen ein Plus gibt: politischer Einfluß, literarischer oder künstlerischer Ruhm oder ein großes Vermögen. Und die Unkosten, die sie dem nutzlosen Krautjunker gegenüber, um den sich die Bürger bemühen, erspart (ein Fürst von Geblüt würde dessen unfruchtbare Freundschaft ihr gar nicht anrechnen), die wendet sie an Politiker, und seien es auch Freimaurer, durch die man in der Gesandtschaftskarriere vorwärtskommt und bei Wahlen poussiert wird, an Künstler und Wissenschaftler, die einen dabei unterstützen, sich in dem Fach, in dem sie die ersten sind, ›durchzusetzen‹, an alle endlich, die neuen Ruhm zu verleihen oder zu einer reichen Heirat zu verhelfen imstande sind.
Was nun Herrn von Norpois persönlich betrifft, so hatte er sich in langer diplomatischer Praxis vor allem mit jenem negativen Geist konservativer Routine vollgesogen, den man ›Regierungsmentalität‹ nennen könnte und der in der Tat allen Regierungen und unter allen Regierungen insbesondere wieder den Kanzleien eigen ist. Seine Laufbahn hatte ihm Abneigung, Vorsicht und Mißachtung gegenüber den mehr oder weniger revolutionären, zumindest inkorrekten Maßnahmen eingegeben, zu denen die Opposition ihre Zuflucht nimmt. Außer bei einigen Ungebildeten aus der Masse und der Gesellschaft, für die der Unterschied der Lebensarten toter Buchstabe bleibt, besteht das ausgleichende Moment überall nicht in der Gemeinschaft der Überzeugungen, sondern in der Blutsverwandtschaft der Geister. Ein Akademiker vom Schlage Legouvés, der etwa Anhänger des Klassizismus wäre, würde eher dem Lobe Victor Hugos von Seiten eines Maxime Ducamp oder Mézières Beifall gespendet haben als dem Boileaus von Seiten Claudels. Gemeinsamer Nationalismus genügt, um Barrès seinen Wählern nahe zu bringen, die vermutlich keinen großen Unterschied zwischen ihm und Herrn Georges Berry machen, genügt aber nicht denjenigen seiner Kollegen von der Akademie gegenüber, die seine politischen Meinungen teilen, aber eine andere Geistesart haben und ihm sogar Gegner wie Ribot und Deschanel vorziehen, denen sich wiederum manche treuen Monarchisten viel näher fühlen als einem Maurras oder Léon Daudet, obwohl diese gleichfalls die Rückkehr des Königs wünschen. Da Herr von Norpois mit Worten geizte, nicht nur aus Vorsicht und Zurückhaltung (Gewohnheiten seines Berufes), sondern auch, weil Worte mehr Gewicht und größeren Reichtum an Nuancen für die haben, die ihre zehnjährigen Bemühungen um die Annäherung zweier Länder – in einer Rede oder einem Protokoll – durch ein einfaches scheinbar banales Adjektiv, in dem aber für sie eine ganze Welt liegt, zusammenfassen und wiedergeben –, so galt er für sehr kalt in der Kommission, wo er seinen Sitz neben meinem Vater hatte, den jedermann zu der Freundschaft, die ihm der ehemalige Botschafter bewies, beglückwünschte. Mein Vater war selbst der erste, der sich über sie wunderte. Im allgemeinen nicht eben liebenswürdig, war er gar nicht gewohnt, daß man sich außerhalb seines engern Freundeskreises um ihn bemühte, und schlicht und aufrichtig gestand er das. Ihm war ganz klar, daß in dem Entgegenkommen des Diplomaten der ganz individuelle Standpunkt zutage trat, von dem aus jeder sich zu seinen Sympathien entscheidet, und alle geistigen Vorzüge oder eine Feinfühligkeit, die manchen von uns ärgert und reizt, keine so gute Empfehlung sind wie munteres offenes Sich-Geben, das wiederum in den Augen vieler anderer für leer, leichtfertig und nichtig gilt. »Norpois hat mich wieder zum Essen eingeladen; merkwürdig! Alle sind ganz verblüfft in der Kommission, wo er zu niemand persönlich Beziehungen hat. Ich bin sicher, er wird mir wieder Aufregendes vom Kriege Siebzig erzählen.« Mein Vater wußte, daß Herr von Norpois vielleicht als einziger den Kaiser auf die wachsende Macht und die kriegerischen Absichten Preußens aufmerksam gemacht hatte und daß Bismarck seine Klugheit besonders hoch einschätzte. Letzthin noch bei Gelegenheit der Galavorstellung in der Oper zu Ehren des Königs Theodosius nahmen die Zeitungen Notiz von dem ausgedehnten Gespräch, in das der Monarch Herrn von Norpois gezogen. »Ich muß doch herausbekommen, ob der Besuch des Königs wirklich wichtig ist«, sagte mein Vater, der sich sehr für äußere Politik interessierte, zu uns. »Ich weiß ja, daß der alte Norpois sehr zugeknöpft ist, aber mit mir kann er von reizender Offenheit sein.«
Für meine Mutter hatte der geistige Habitus des Botschafters an sich wohl nichts besonders Anziehendes. Und ich muß sagen, die Ausdrucksweise des Herrn von Norpois gab ein so vollständiges Repertoire der überlebten Redewendungen, wie sie zu einer bestimmten Karriere, Klasse und Epoche – einer Epoche, die für diese Klasse und Karriere vielleicht wirklich noch nicht erledigt ist – passen, daß es mir manchmal leid tut, nicht ganz rein und unverändert die Worte behalten zu haben, die ich von ihm hörte. Damit hätte ich das Altmodische höchst effektvoll und ebenso leicht und treffend herausgebracht wie jener Schauspieler vom Palais-Royal, den man fragte, wo er denn seine überraschenden Hüte fände, und der antwortete: »Ich finde meine Hüte nicht; ich behalte sie.« Mit einem Wort, ich glaube, meine Mutter fand Herrn von Norpois ein bißchen vieux jeu, was ihr in bezug auf seine Manieren beileibe nicht mißfiel, sie aber weniger entzückte im Bereiche nicht gerade der Ideen – denn die des Herrn von Norpois waren sehr modern – sondern der Ausdrucksweise. Allein sie fühlte, daß es ihrem Gatten in zarter Weise schmeichelte, wenn sie ihm mit Bewunderung von dem Diplomaten sprach, der eine so seltene Vorliebe für ihn bezeugte. Wenn sie meinen Vater in seiner guten Meinung von Herrn von Norpois bestärkte und ihn so dazu brachte, auch von sich selbst eine gute Meinung zu bekommen, war sie sich bewußt, eine ihrer Pflichten zu erfüllen, nämlich die, ihrem Gatten das Leben angenehm zu machen, wie sie es tat, wenn sie darüber wachte, daß die Küche gepflegt war und die Bedienung sich schweigsam vollzog. Und da sie außerstande war, meinen Vater zu belügen, trainierte sie sich innerlich, den Botschafter zu bewundern, um ihn aufrichtig loben zu können. Übrigens hatte sie ein natürliches Wohlgefallen an seiner gütigen Miene und seiner altmodischen zeremoniösen Höflichkeit