Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027208821
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als die Mehrzahl der Gebildeten; sie sind verstreute, verlorene, der Vernunft beraubte Glieder der heiligen Familie, kindgebliebene Geschwister der höchsten Geister; an dem unverkennbaren Leuchten in ihren Augen, das allerdings auf nichts Bestimmtes hindeutet, sieht man: zur Begabung fehlt ihnen nur das Wissen.

      Meine Mutter sah, daß ich kaum die Tränen zurückhalten konnte, und sagte: »Regulus pflegte in bedeutsamen Momenten ... Und dann ist es auch nicht nett gegen deine Mama. Um wie deine Großmutter mit Frau von Sévigné zu sprechen: »Ich werde gezwungen sein, den ganzen Mut, der dir fehlt, aufzubringen.‹« Und da sie wußte, wie Anteilnahme am Schicksal des Nächsten von selbstsüchtigen Schmerzen ablenkt, unterhielt sie mich, um mir Vergnügen zu machen, von ihren Angelegenheiten: sie rechne auf eine angenehme Fahrt nach Saint-Cloud, sei mit der Droschke zufrieden, habe sie behalten, der Kutscher sei höflich, der Wagen bequem. Ich gab mir Mühe, über diese Einzelheiten zu lächeln, und nickte zustimmend, zufrieden. Doch alles, was Mama sagte, machte ihre Abreise mir nur noch wirklicher, und mit beklommenem Herzen sah ich sie, als wäre sie schon von mir getrennt, dastehen in dem rundem Strohhut, den sie fürs Land gekauft, in dem leichten Kleid, das sie für die lange Fahrt bei großer Hitze angelegt hatte; so war sie schon anders, gehörte schon zur Villa ›Montretout‹, in der ich sie nicht sehen sollte.

      Um die Erstickungsanfälle, die sich als Folge der Reise einstellen könnten, zu vermeiden, hatte der Arzt mir geraten, im Augenblick der Abfahrt eine größere Quantität Bier oder Kognak zu mir zu nehmen, um dadurch in den von ihm als ›Euphorie‹ bezeichneten Zustand zu kommen, in dem das Nervensystem für den Augenblick weniger verletzlich ist. Noch war ich nicht sicher, daß ich es tun würde, wollte aber wenigstens, die Großmutter solle anerkennen, wenn ich mich dazu entschlösse, wären Recht und Vernunft auf meiner Seite. So sprach ich denn davon, als hätte ich mich nur über den Ort, wo ich den Alkohol trinken wollte, noch nicht entschieden, Stationsbüfett oder die Bar im Zuge. Als mich aber die Großmutter vorwurfsvoll ansah und schon vor dem Gedanken an mein Vorhaben zurückschrak, stand plötzlich mein Entschluß zu trinken fest; ihn auszuführen, wurde, da schon die bloße Ankündigung auf Widerstand stieß, notwendig, um meine Freiheit zu erhärten, und ich rief: »Du weißt doch, wie krank ich bin, du weißt, was der Arzt mir gesagt hat, und jetzt rätst du mir ab!« Da bekam das gütige Gesicht meiner Großmutter einen ganz untröstlichen Ausdruck, und als sie sagte: »So geh schnell Bier oder einen Likör trinken, wenn dir das gut tun soll«, warf ich mich in ihre Arme und bedeckte sie mit Küssen. Dann trank ich allerdings viel zuviel in der Bar des Zuges, aber nur weil ich fühlte, ich könnte sonst einen heftigen Anfall bekommen, und das würde sie doch am meisten bekümmern. Als ich an der ersten Station wieder in unsern Wagen stieg, sagte ich zu der Großmutter, ich sei so glücklich, nach Balbec zu reisen, ich fühle, alles werde gut gehen, im Grunde würde ich mich schnell daran gewöhnen, fern von Mama zu sein, der Zug sei angenehm, Barmann und Angestellte sehr liebenswürdig, diese Strecke möchte ich oft fahren, um die Leute wiederzusehen. Die Großmutter schien nicht so erfreut wie ich über all die guten Neuigkeiten. Meinem Blick ausweichend, entgegnete sie: »Du solltest ein bißchen zu schlafen versuchen«, und sie sah zum Fenster hinüber, an dem wir den Vorhang heruntergelassen hatten. Der bedeckte die Scheibe nicht ganz, und so konnte die Sonne (eine viel beredtere Reklame als die richtigen von der Eisenbahngesellschaft zu hoch an den Wänden angebrachten Reklamebilder, deren Unterschrift ich nicht entziffern konnte) über das gewachste Eichenholz der Coupétür und den Stoffbezug der Bank dasselbe laue verschlafene Licht gleiten lassen, das draußen in den Waldlichtungen ausruhte.

      Die Großmutter glaubte, ich habe die Augen geschlossen, ich sah, wie sie von Zeit zu Zeit unter ihrem Schleier mit den dicken Tupfen einen Blick auf mich warf, weg- und dann wieder hersah wie jemand, der bemüht ist, sich an eine beschwerliche Pflicht zu gewöhnen.

      Da redete ich zu ihr, aber das war ihr offenbar nicht sehr angenehm. Und mir machte doch der Klang der eigenen Stimme so viel Vergnügen und ebenso die unmerklichsten innersten Bewegungen meines Körpers; jedes betonte Wort zog ich in die Länge, fühlte, daß jeder Blick von mir da, wo er hinfiel, sich wohlbefand und länger als gewöhnlich haften blieb. »Du mußt dich ausruhen,« sagte meine Großmutter, »wenn du nicht schlafen kannst, lies etwas.« Und sie reichte mir einen Band von Frau von Sévigné; den öffnete ich, während sie sich in die Memoiren der Frau von Beausergent vertiefte; nie reiste sie ohne ein Buch der einen oder der andern. Es waren das ihre beiden Lieblingsschriftsteller. Ich mochte jetzt nicht gern den Kopf bewegen, es war mir eine Lust, die einmal eingenommene Lage beizubehalten; so hielt ich denn ruhig das Buch der Frau von Sévigné, ohne es aufzuschlagen, senkte auch nicht meinen Blick; der hatte nichts vor sich als den blauen Store des Fensters. Diesen Store zu betrachten, schien mir wunderbar, und hätte jemand versucht, mich von meiner Betrachtung abzulenken, ich hätte mir nicht die Mühe genommen, ihm zu antworten. Nicht weil es schön, sondern weil es so lebendig und eindringlich war, verloschen vor dem Blau der Stores alle Farben, die ich vom Tage meiner Geburt bis zu dem Augenblick, als ich mein Getränk hinunterschluckte, vor Augen gehabt hatte. Von diesem Augenblick an hatte das Blau des Stores zu wirken begonnen, und neben ihm waren alle andern Farben so fahl und nichtig, wie für Blindgeborene, die spät operiert werden und endlich Farben sehen, die Dunkelheit, in der sie früher gelebt haben, es retrospektiv werden mag. Ein alter Schaffner erschien und bat um unsere Billette. An den silbernen Reflexen auf den Metallknöpfen seines Rockes konnte ich mich nicht sattsehen. Ich wollte ihn bitten, sich zu uns zu setzen. Aber er ging in ein anderes Coupé weiter, und ich dachte mit Sehnsucht an das Leben der Eisenbahnbeamten, die ihre ganze Zeit im Zuge verbrachten und tagtäglich diesen alten Schaffner sehen konnten. Schließlich nahm meine Lust, den blauen Store zu betrachten und zu fühlen, daß mein Mund halb offen war, mehr und mehr ab. Ich wurde regsamer; ein wenig bewegte ich mich, schlug das Buch auf, das die Großmutter mir gereicht hatte, und konnte nunmehr meine Aufmerksamkeit auf die Seiten richten, die ich hier und da auswählte. Beim Lesen fühlte ich, wie meine Bewunderung für Frau von Sévigné; größer wurde.

      Man muß sich nicht durch rein formale Besonderheiten, die mit der Epoche und dem Salonleben zusammenhängen, irreführen lassen, wie das gewisse Leute tun, die mit Frau von Sévigné fertig zu sein glauben, wenn sie sagen: ›Entbiete mir meine Bonne‹ oder ›Dieser Graf schien mir von vortrefflichen Geistesgaben‹ oder ›Heuen ist das Schönste auf der Welt‹. Schon Frau von Simiane bildet sich ein, ihrer Großmutter zu gleichen, wenn sie schreibt: ›Herrn von La Boulie geht es ausgezeichnet, er ist in bestem Zustande, um die Nachricht von seinem eigenen Tode zu bekommen‹ oder ›O mein lieber Marquis, Ihr Schreiben erfreut mich über die Maßen. Wie brächte ich's fertig, nicht zu antworten‹ oder auch ›Mir scheint, verehrter Herr, Sie sind mir eine Antwort schuldig, und ich Ihnen Bergamottdosen. Ich erfülle meine Pflicht zunächst mit acht Stück, später folgen mehr ...; nie hat die Erde soviel getragen. Offenbar, um Ihnen Freude zu machen.‹ Und in derselben Art schreibt sie den Brief über den Aderlaß, die Zitronen usw., die ihr wie richtige Sévignébriefe vorkommen. Meine Großmutter aber war von innen, durch ihre Liebe zu den Ihren und zur Natur, zu Frau von Sévigné gekommen und hatte die wahren Schönheiten dieser Briefe, die von ganz anderer Art sind, zu lieben mich gelehrt. Bald sollten sie mir noch besonders nahegebracht werden, denn Frau von Sévigné war eine Künstlerin von derselben Familie wie ein Maler, dem ich in Balbec begegnete und der einen so tiefgehenden Einfluß auf mein Weltbild gewann: Elstir. Da wurde mir klar, daß sie uns die Dinge darbietet wie er: sie leitet sie nicht erst erklärend aus ihren Ursachen ab, sie hält sich an den Gang unserer Wahrnehmung. Aber schon an dem Nachmittag im Coupé, als ich wieder den Brief las, in dem der Mondschein vorkommt: ›Da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen: ich tu all mein Hauben- und Kapuzenzeug auf, was gar nicht nötig war, ich gehe auf die Promenade, wo die Luft so gut ist wie in meinem Zimmer! Ich finde lauter putzige Leute, weiße und schwarze Mönche, graue und weiße Nonnen, Wäsche hier und da herumliegen, stehend in Stämmen begrabene Menschen‹ –, da entzückte mich etwas, das ich einige Zeit später (zeichnet sie doch Landschaften wie er Charaktere) das Dostojewskiartige der Briefe der Frau von Sévigné genannt haben würde.

      Nachdem ich dann am Abend die Großmutter zu ihrer Freundin begleitet, dort einige Stunden verbracht hatte und dann allein wieder in den Zug gestiegen war, hatte die einbrechende Nacht nichts Quälendes für mich; ich brauchte sie ja nicht in dem Gefängnis eines Zimmers zu verbringen, dessen Schlummer mich wachgehalten