Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Proust
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027208821
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die nicht Bescheid wußten, mein Herz, das hier nicht zu Hause war. Noch schwerer hatte es zu leiden, als wir in dem hall des großen Hotels von Balbec landeten, vor einer monumentalen Treppe aus imitiertem Marmor standen und meine Großmutter, ohne sich's kümmern zu lassen, daß sie dadurch die Fremden, unter denen wir leben sollten, in feindlicher und verächtlicher Haltung uns gegenüber bestärkte, mit dem Direktor die ›Bedingungen‹ absprach. Das war eine Art Ölgötze, Gesicht und Stimme voller Spuren und Narben der Vergangenheit (im Gesicht waren es abgekratzte Pickel, in der Stimme diverse Akzente, die er seiner fernen Herkunft und kosmopolitischen Kindheit zu verdanken hatte); er trug einen modischen Smoking, und sein Psychologenblick sah bei Ankunft des ›Omnibus‹ in den großen Herren verdächtige Subjekte und in den Hotelratten große Herren. Er mochte wohl vergessen haben, daß er selbst nur fünfhundert Franken Monatsgehalt bezog, denn tief verachtete er Personen, für die fünfhundert Franken oder vielmehr, wie er es nannte, ›fünfundzwanzig Louisdor‹ eine ›Summe‹ waren, solche Leute gehörten für ihn zur Kaste der Paria, die nicht in das Grand-Hôtel paßten. Allerdings gab es in diesem Palace manche, die nicht viel bezahlten und dennoch von dem Direktor geschätzt wurden; deren Sparsamkeit führte er nämlich nicht auf Armut, sondern auf Geiz zurück. Geiz beeinträchtigt das Prestige nicht, er ist ein Laster und in allen sozialen Schichten anzutreffen. Die soziale Schicht, das war das einzige, was der Direktor beachtete, die soziale Schicht oder vielmehr die Anzeichen, aus denen er schloß, daß sie hoch sei, zum Beispiel, nicht den Hut abzunehmen, wenn man in die Hotelhalle tritt, Knickerbocker, einen auf Taille gearbeiteten Paletot zu tragen oder eine Zigarre mit purpurner und goldener Bauchbinde aus einem Etui von gepreßtem Maroquin zu ziehen (alles Vorzüge, die ich leider nicht hatte!). Er durchwirkte seine geschäftlichen Äußerungen mit sehr gewählten, aber sinnwidrigen Wendungen.

      Auf einer Bank wartend, mußte ich mitansehen, wie meine Großmutter, ohne sich daran zu stoßen, daß er ihr, den Hut auf dem Kopf und pfeifend, zuhörte, in erkünsteltem Tonfall fragte: »Und welches sind... Ihre Preise?... Oh! Viel zu hoch für mein kleines Budget.« Da suchte ich mich in mein tiefstes Inneres zu flüchten, gab mir Mühe, in erhabene Gedankengänge auszuwandern, nichts von mir, wenigstens nichts Lebendiges auf der Oberfläche meines Körpers zu lassen – ich wollte sie unempfindlich machen, wie Tiere sich totstellen, wenn man sie verwundet –, um nicht allzusehr an diesem mir gänzlich unbekannten Ort leiden zu müssen, wo ich mich noch unsicherer fühlte, als ich sah, mit welcher Sicherheit die elegante Dame dort auftrat, der der Direktor Respekt bezeugte, indem er mit ihrem Hündchen schäkerte, oder der junge Stutzer mit der Feder am Hut, der fragte, ob Post für ihn da sei; alle diese Leute kehrten einfach in ihr »home« zurück, wenn sie die Stufen aus falschem Marmor beschritten. Zugleich traf mich der strenge Totenrichterblick von Minos, Aiakos und Rhadamantys – und in diesen Blick versank meine arme nackte Seele wie in eine unbekannte Welt, wo sie ganz schutzlos war – aus Augen von drei Herren, die, vielleicht gar nicht sehr erfahren in der Kunst zu empfangen, doch den Titel »Empfangschef« führten; weiter entfernt saßen hinter einer Glaswand Leute in einem Lesesalon; wollte ich den beschreiben, so müßte ich in Dante die Farben, mit denen er Himmel und Hölle malt, abwechselnd wählen, je nachdem ich an das Glück der Seligen dächte, die dort in aller Ruhe lesen durften, und an mein Entsetzen, falls die Großmutter in ihrer Ahnungslosigkeit mich geheißen hätte, in diesen Salon einzudringen.

      Mein Gefühl der Verlassenheit sollte gleich noch stärker werden. Als ich der Großmutter gestanden hatte, ich fühle mich nicht wohl und glaube, wir werden wieder nach Paris zurückkehren müssen, hatte sie nicht protestiert, nur gesagt, sie müsse noch einige Besorgungen machen, die nützlich wären, ob wir nun abreisten oder hierblieben (später erfuhr ich, daß es lauter Besorgungen für mich waren, weil Françoise alle Sachen mithatte, die mir fehlten). Inzwischen ging ich in den Straßen auf und ab, die überfüllt von der Menge und zimmerwarm waren. Ein Friseurladen war noch auf und die Konditorei, in der Stammgäste Eis aßen; davor war das Denkmal von Duguay-Trouin. Der Anblick dieses Standbildes machte mir ungefähr so viel Vergnügen wie seine Abbildung in einem illustrierten Blatt einem Kranken bereitet hätte, der im Wartezimmer eines Chirurgen in den Zeitschriften blättert. Es mußte wohl Leute geben, die ganz anders empfanden als ich, denn der Direktor hatte mir diesen Spaziergang durch die Stadt zur Zerstreuung empfohlen. Manchem mußte auch eine neue Unterkunft – für mich eine Stätte der Qualen – ein »köstlicher Aufenthalt« sein, das behauptete wenigstens der Prospekt des Hotels, der zwar übertreiben konnte, sich aber doch an eine Kundschaft wandte, deren Geschmack er schmeichelte. Allerdings beschwor er, um diese in das Grand-Hôtel Balbec zu locken, nicht nur die »ausgezeichnete Küche« und den »feenhaften Anblick der Kasinogärten«, sondern auch die »Gebote Ihrer Majestät der Mode, die man nicht ungestraft verletzt, wenn man nicht für einen Böotier gelten will, ein Tadel, dem sich kein Wohlerzogener aussetzen mag.« Ich konnte es kaum erwarten, daß meine Großmutter wiederkam, zumal ich fürchtete, sie enttäuscht zu haben. Es mußte sie entmutigen, daß ich dies bißchen Anstrengung nicht aushielt, dann war ja keine Hoffnung, daß mir je eine Reise guttäte. Ich beschloß, sie lieber im Hotel zu erwarten. Als ich eintrat, drückte der Direktor auf einen Knopf: da kam eine mir noch unbekannte Persönlichkeit, ›Lift‹ genannt (dieser Lift hauste im höchsten Giebel des Hotels, da, wo bei normannischen Kirchen die Turmhaube ist, wie ein Photograph hinterm Atelierfenster oder ein Organist im Gestühl), mit der Behendigkeit eines zahmen Eichhörnchens, das sich munter in seinem Gefängnis bewegt, zu mir heruntergefahren. Und wieder an einem Pfeiler emporgleitend, fuhr er mich mit sich hinauf in die Kuppel der weltlichen Kirche. In jedem Stockwerk entfalteten sich zu beiden Seiten kleiner Verbindungstreppen fächerförmig düstere Gänge. Durch einen kam ein Zimmermädchen mit einem Kopfkissen im Arm. Ihrem Gesicht, das im Dämmer unbestimmt blieb, setzte ich die Maske meiner leidenschaftlichsten Träume auf, aber als sie mir ihren Blick zuwandte, las ich darin nur das Erschrecken über den im Vorüberfahren Unsichtbaren. Um die tödliche Beklemmung bei diesem endlosen stummen Aufstieg durch das geheimnisvolle Helldunkel ohne Schönheit, das nur eine senkrechte Reihe Glasscheiben – je ein Waterklosett in jeder Etage –, beleuchtete, loszuwerden, richtete ich das Wort an den jungen Organisten, Reisemarschall und Gefährten meiner Gefangenschaft, der weiter die Register seines Instruments zog. Ich bat um Entschuldigung, daß ich ihm Mühe mache und soviel Platz nehme. Und um dem Virtuosen zu schmeicheln, erklärte ich, ich fände die Kunst, bei deren Ausübung ich ihn vielleicht störe, nicht nur interessant, nein, geradezu reizvoll. Aber er antwortete mir nicht, ob er nun über meine Worte sich zu sehr wunderte, auf seine Arbeit achtgeben mußte, die Etikette wahren wollte, schwerhörig oder denkfaul war, Gefahr fürchtete oder entsprechende Weisung vom Direktor erhalten hatte.

      Nichts macht die Realität einer äußeren Umgebung stärker uns fühlbar als die wechselnde Rolle, welche selbst unwichtige Personen, bevor und nachdem wir sie kennen gelernt, darin spielen. Ich war noch derselbe Mensch, der am Spätnachmittag in Alt-Balbec die Kleinbahn genommen hatte, ich trug in mir dieselbe Seele. Aber wo in dieser Seele um sechs Uhr statt der unfaßbaren Bilder des Direktors, des Palace, des Personals nur ein unbestimmtes, banges Warten auf den Augenblick der Ankunft war, befanden sich jetzt die abgekratzten Pickel auf dem Gesicht des kosmopolitischen Direktors – in Wirklichkeit war er in Monaco naturalisiert, obwohl, um seine ebenso distinguierte wie fehlerhafte Ausdrucksweise zu gebrauchen, von »rumänischer Herkömmlichkeit« –, ferner seine Geste, nach dem Lift zu klingeln, der Lift selber, ein ganzer Fries von Marionetten aus der Pandorabüchse des Grand-Hôtels, Bilder, die nicht mehr abzuleugnen, wegzuwischen waren und, wie alles, was sich verwirklicht hat, die Phantasie sterilisierten. Aber wenigstens bewies mir dieser Wechsel, bei dem ich selbst nicht mitgespielt hatte, daß etwas außerhalb von mir geschehen war – mochte es auch an sich noch so belanglos sein –, und ich war wie der Reisende, der die Sonne erst vor sich gehabt und nun, da er sie hinter sich sieht, feststellen kann, daß Stunden vergangen sind. Ich war todmüde, hatte Fieber, gern hätte ich mich schlafen gelegt, aber dazu fehlte mir alles. Ich dachte daran, mich wenigstens einen Augenblick auf dem Bett auszustrecken. Allein das hätte nichts geholfen: ich konnte dann doch die Summe von Erregungen, die für jeden von uns, wenn nicht unser materieller, so doch unser bewußter Körper ist, nicht zur Ruhe bringen. Die unbekannten rings andrängenden Gegenstände hätten meinen Körper zu dauernd wachem Verteidigungszustand der Wahrnehmungskräfte gezwungen, Gesicht, Gehör, alle Sinne (selbst wenn ich meine Beine ausstreckte) in so gezwungener und unbequemer Lage