Der Eindruck, daß Frau Swann sich in der Avenue du Bois wie in einer Allee ihres eigenen Gartens bewege, wurde – für Leute, die ihre »Footing«-Gewohnheiten nicht kannten – durch den Umstand erhöht, daß sie ohne nachfolgenden Wagen zu Fuß kam, sie, die man vom Mai ab gewohnt war, im gepflegtesten Gespann mit der bestgehaltenen Livree von Paris vorüberfahren zu sehen, weich, majestätisch sitzend wie eine Göttin, in der lichten, lauen Luft einer großen Viktoria auf acht Federn. Zu Fuß erweckte Frau Swann, besonders wenn die Wärme ihren Schritt verlangsamte, den Eindruck, als gebe sie einer Neugier nach und übertrete elegant die Etikette, wie Fürsten, ohne jemanden zu fragen, unter dem leisen Ärger und der Bewunderung ihres Gefolges, das keine Kritik auszusprechen wagt, während einer Galavorstellung ihre Loge verlassen, das Foyer besuchen und sich einige Augenblicke unter die andern Zuschauer mischen. So fühlte die Menge! zwischen Frau Swann und sich Schranken eines Reichtums, die ihr unüberschreitbarer schienen als alle andern. Das Faubourg Saint-Germain hat wohl die seinen, aber sie sprechen weniger deutlich zu Auge und Phantasie der »Entgleisten«. Diese werden einer großen Dame gegenüber, die einfacher und leichter mit einer Kleinbürgerin zu verwechseln, weniger entfernt vom Volke ist, nicht das Gefühl der Ungleichheit, fast der eigenen Unwürdigkeit haben wie angesichts einer Frau Swann. Ohne Zweifel sind Frauen ihrer Art selbst nicht, wie jene Zuschauer, betroffen von dem Gepränge, das sie umgibt, sie beachten es nicht mehr, weil sie daran gewöhnt sind, das heißt, weil sie es schließlich um so notwendiger finden, je natürlicher es ihnen ist, und auch die andern nach dem Grade ihres Eingeweihtseins in diese Gewohnheiten des Luxus beurteilen. So kommt es, daß diese Frauen – da das Vornehme, das sie an sich selbst in Erscheinung treten lassen und an andern entdecken, ganz materiell, leicht festzustellen, mühsam zu erwerben und schwer zu ersetzen ist, – einen Vorübergehenden in genau derselben Weise auf die tiefste Stufe stellen, wie sie ihm auf der höchsten erscheinen, nämlich unmittelbar, auf den ersten Blick und unwiderruflich. Diese besondere Gesellschaftsklasse, zu der damals Frauen wie Lady Israels gehörten, die in der Aristokratie verkehrte, und Frau Swann, die es später auch tun sollte, diese Zwischenklasse, die unter dem Faubourg Saint-Germain stand, da sie ihm den Hof machte, aber über allem, was nicht Faubourg Saint-Germain war, und der es eigentümlich war, schon losgelöst von der Welt der Reichen, noch der Reichtum selbst, aber ein dehnbar gewordener Reichtum zu sein, der einer künstlerischen Bestimmung und Idee gehorchte, geschmeidiges, mit Phantasie ziseliertes Geld, das zu lächeln weiß, – diese Klasse gibt es, wenigstens gleichartig und mit gleichem Reiz, heut nicht mehr. Heut würde übrigens auch den Frauen, die dazu gehörten, die erste Voraussetzung ihrer Herrschaft fehlen, da sie fast alle mit dem Alter ihre Schönheit verloren haben. Nicht nur vom First ihres vornehmen Reichtums, auch von dem glorreichen Gipfel ihres reifen und noch köstlichen Sommers sah damals Frau Swann, wenn sie majestätisch, lächelnd und gütig die Avenue du Bois heraufkam, wie Hypatia unter dem langsamen Schritt ihrer Füße die Welten rollen. Junge Leute, die vorüberkamen, sahen sie ängstlich an, unsicher, ob ihre undeutlichen Beziehungen zu ihr – zumal sie, Swann kaum einmal vorgestellt, fürchteten, er werde sie nicht erkennen – hinreichten, damit sie sich erlauben könnten, sie zu grüßen. Und nur mit Zittern vor den Folgen entschlossen sie sich dazu, sie wußten nicht, ob ihre keck provozierende, sündhafte Gebärde, frevelnd gegen die unverletzliche Suprematie einer Kaste, nicht Katastrophen entfesseln und die Strafe eines Gottes herabbeschwören würde. Aber sie löste nur, wie eine Drehung in einem Uhrwerk, das Gestikulieren kleiner Gruß-Figuren aus, die niemand anders als die Umgebung Odettes waren, angefangen mit Swann, der seinen mit grünem Leder gefütterten Zylinder mit einer Grazie lüftete, die er im Faubourg Saint-Germain gelernt hatte, aber ohne die Kühle, die er früher dabei gezeigt hätte. Die wurde (als sei er bis zu einem gewissen Grade von Odettes Vorurteilen durchdrungen) ersetzt durch Ärger, den Gruß eines ziemlich schlecht angezogenen Menschen erwidern zu müssen, und zugleich durch die Genugtuung, daß seine Frau soviel Leute kannte, eine Gefühlsmischung, die er den eleganten Freunden umher mit den Worten wiedergab: »Schon wieder einer! Weiß der Himmel, wo Odette all diese Leute auftreibt!« Indessen hatte Frau Swann dem erregten, schon verschwundenen Passanten, dessen Herz noch klopfte, mit einem Kopfnicken geantwortet und wandte sich nun an mich: »Also es ist vorbei? Sie werden Gilberte nie mehr besuchen kommen? Ich bin froh, daß ich nicht mitbetroffen werde und daß Sie mich nicht ganz »dropen«. Ich sehe Sie gern, sah aber auch gern den Einfluß, den Sie auf meine Tochter hatten. Ich glaube, daß es ihr ebenfalls sehr leid tut. Nun, ich will Sie nicht tyrannisieren, sonst wollen Sie am Ende auch mich nicht mehr besuchen!« »Odette, Sagan sagt Ihnen guten Tag«, machte Swann seine Frau aufmerksam. Und in der Tat, wie in einer Theater- oder Zirkusapotheose oder auf einem alten Bild, ließ der Fürst sein Pferd zu einer großartigen Ehrenbezeugung Front machen und richtete an Odette einen theatralischen, gewissermaßen allegorischen Gruß, in dem die ganze ritterliche Höflichkeit des großen Herrn sich entfaltete, der vor dem Weibe sich neigt, mag auch eine Frau es verkörpern, mit der seine Mutter oder Schwester nicht verkehren könnten. Alle Augenblicke, inmitten des durchsichtig fließenden, lacklichten Schattens, den ihr Sonnenschirm über sie ergoß, entdeckt, wurde Frau Swann gegrüßt von letzten verspäteten Reitern, die wie gefilmt in dem Galopp über das Sonnenweiß der Avenue aussahen, Männer einer Elite, Träger von Namen, die, im Publikum sehr berühmt – Antoine de Castellane, Adalbert de Montmorency und soviel andere – für Frau Swann vertraute Namen von Freunden waren. Und da die durchschnittliche Lebensdauer – die relative Langlebigkeit – für Erinnerungen an poetische Empfindungen viel größer ist als für die an die Leiden des Herzens, so hat in mir den schon so lange vergangenen Kummer um Gilberte die Freude überlebt, die ich jedesmal empfinde, wenn ich im Mai auf einer Art Sonnenuhr die Minuten zwischen Zwölfeinviertel und Eins ablesen will, die Freude, mich so
Автор: | Marcel Proust |
Издательство: | Bookwire |
Серия: | |
Жанр произведения: | Языкознание |
Год издания: | 0 |
isbn: | 9788027208821 |
verbracht hatte und in die sie bald zum Frühstück zurückkehren mußte; sie schien deren fühlbare Nähe durch müßig schlendernde Schritte, wie man sie sonst nur in dem eigenen Garten tut, anzudeuten; von dieser Wohnung, hätte man sagen können, trug sie noch um sich den frischen Schatten des Innenraumes. Mit all dem aber gab mir ihr Anblick nur um so mehr Gefühl von freier Luft und Wärme. War ich doch nahezu schon durchdrungen, daß ihre Toilette, auf Grund der Liturgie und der Riten, in denen sie tief erfahren war, mit Jahreszeit und Stunde ein notwendiges wunderbares Band vereinte; die Blumen ihres starren Strohhuts, die kleinen Bänder ihrer Robe schienen mir dem Monat Mai noch natürlicher zu entsprießen als die Blumen der Gärten und Wälder; und um den neuen Rausch der Jahreszeit zu erfahren, hob ich die Augen nicht höher als bis zu ihrem Schirm, der offen ausgespannt war wie ein zweiter, näherer Himmel, rund, huldreich, blau und bewegt. Denn diese Riten, so selbstherrlich sie waren, setzten ihren Ruhm darein – und somit tat es auch Frau Swann –, willfährig dem Morgen, dem Frühling, der Sonne zu gehorchen, und die waren mir gar nicht geschmeichelt genug, daß eine so elegante Frau gern von ihnen Notiz nahm und eigens für sie ein lichteres leichteres Kleid angelegt hatte, dessen Weite an Kragen und Ärmeln an die zarte Feuchte von Hals und Handgelenk denken ließ, daß sie für sie die Umstände der großen Dame machte, die sich heiter herabläßt, Leute aus dem Volk auf dem Lande zu besuchen, und eigens für diesen Tag, obwohl alle, bis zu den niedersten herab, sie kennen, eine ländliche Kleidung anlegt. Sobald sie erschien, grüßte ich Frau Swann. »Good morning«, sagte sie lächelnd und behielt mich bei sich. Wir gingen ein paar Schritte zusammen. Und ich begriff, daß sie den Satzungen, nach denen sie sich kleidete, um ihrer selbst willen gehorchte, wie einer höheren Weisheit, deren Hohepriesterin sie war: denn wenn ihr einmal zu warm wurde und sie öffnete das Jakett, das sie festgeschlossen anzubehalten gedacht hatte, oder nahm es sogar ganz ab und gab es mir zu tragen, dann entdeckte ich an der Chemisette tausend feinausgeführte Einzelheiten, die so leicht hätten unbemerkt bleiben können wie Teile einer Orchesterpartitur, welche der Komponist mit größter Sorgfalt ausgearbeitet hat, obwohl sie nie dem Publikum zu Ohren kommen sollen; oder ich sah – und betrachtete lange zu meinem Vergnügen oder aus Liebenswürdigkeit – an den Ärmeln des Jaketts, das ich gefaltet über dem Arm trug, köstliche Details, einen Streifen von entzückendem Farbton, ein lila Seidenfutter, die gewöhnlich allen Augen verborgen bleiben und doch ebenso zart gearbeitet sind wie die äußeren Partien, ähnlich den gotischen Skulpturen einer Kathedrale, die auf der Kehrseite einer Balustrade in achtzig Fuß Höhe über der Erde verborgen sind und die nie jemand zu sehen bekommt, bis einmal zufällig ein reisender Künstler es durchsetzt, hinaufzusteigen und dort oben herumgehen zu dürfen, um die ganze Stadt zwischen den beiden Türmen zu überblicken.