Bei solchen Perioden, in denen Kummer im Schwächerwerden noch fortdauert, muß man unterscheiden zwischen dem, den uns das beständige Denken an die Person selbst verursacht, und dem, den gewisse Erinnerungen, ein böses Wort, das sie gesagt hat, eine Wendung in einem ihrer Briefe beleben. Wir heben für eine spätere Liebesgeschichte die Beschreibung der verschiedenen Formen des Kummers auf und wollen hier nur sagen, daß von den beiden erwähnten die erste bei weitem nicht so quälend ist als die zweite. Das macht, unser Begriff von der immer in uns lebendigen Person wird verklärt durch die Glorie, die wir ihr alsbald geben, und immer wieder prägt sich ihm süße Hoffnung oder wenigstens Gelassenheit beständiger Schwermut ein. (Nebenbei ist zu bemerken, daß das Bild des Wesens, das uns Leid zufügt, wenig Platz einnimmt in all dem, was einen Liebeskummer schwer macht, verlängert und seine Heilung hindert, sowie bei bestimmten Krankheiten die Ursache in gar keinem Verhältnis steht zu dem nachfolgenden Fieber und der Langsamkeit des Übergangs zur Rekonvaleszenz.) Empfängt nun die Vorstellung des von uns geliebten Wesens den Widerschein einer im allgemeinen optimistischen Anschauung, so trifft das nicht zu auf die besonderen Erinnerungen, die bösen Worte, den feindseligen Brief (ich bekam von Gilberte nur einen einzigen solchen); man sollte meinen, die Person selber hause in solchen winzigen Fragmenten und bekäme da eine Macht, wie sie sie bei weitem in der gewohnten Vorstellung nicht hat, die wir uns von ihrem Gesamtwesen bilden. Den Brief haben wir eben nicht wie das Bild des geliebten Wesens angeschaut in der melancholischen Gelassenheit der Trauer; wir haben ihn gelesen, verschlungen unter der entsetzlichen Beklemmung, mit der uns unerwartetes Unglück umfängt. Die Entstehung dieser Art Kummer ist anders: er kommt uns von außen und geht auf dem Wege qualvollsten Leidens uns ins Herz. Das Bild unserer Freundin, das wir für unverändert und authentisch halten, ist in Wirklichkeit häufig von uns überarbeitet worden. Die quälende Erinnerung aber ist kein Zeitgenosse des restaurierten Bildes, sie ist aus einer anderen Epoche, einer der seltenen Zeugen gräßlicher Vergangenheit. Da aber diese Vergangenheit weiter besteht außer in uns, denen es beliebt hat, ein wunderbares goldenes Zeitalter, ein Paradies der allgemeinen Versöhnung an ihre Stelle zu setzen, so rufen diese Erinnerungen und diese Briefe uns ins Wirkliche zurück, und an dem jähen Schmerz, den sie uns machen, sollten wir fühlen, wie weit wir uns in den tollen Hoffnungen unserer täglichen Erwartung von ihr entfernt haben. Nicht immer braucht diese Wirklichkeit dieselbe zu bleiben, obgleich auch das bisweilen vorkommt. Es gibt in unserm Leben viele Frauen, die wir nie wieder zu sehen begehrten und die natürlich unser unbeabsichtigtes Schweigen mit ebensolchem Schweigen beantworten. Bei diesen haben wir, da wir sie nicht liebten, auch nie die fern von ihnen verbrachten Jahre gezählt, und dies Beispiel, das ein Einwand wäre, vernachlässigen wir, wenn wir die Wirkungskraft der Trennung erwägen, wie die, welche an Ahnungen glauben, alle Fälle vernachlässigen, in denen ihre Ahnungen nicht bestätigt worden sind.
Aber das Entferntsein kann schließlich doch wirksam werden. Begier, Lust, uns wiederzusehen, erwachen endlich aufs neue im Herzen, das jetzt uns verleugnet. Allein dazu ist Zeit nötig. Nun sind unsere Forderungen in bezug auf die Zeit ebenso maßlos wie die, welche das Herz stellt, um sich ändern zu können. Zunächst ist gerade Zeit das Zugeständnis, welches uns am schwersten fällt, denn unser Leid ist qualvoll, und wir haben es eilig, ihm ein Ende zu machen. Sodann wird dieser Zeit, deren das andere Herz bedarf, um sich zu ändern, sich das unsere bedienen, um gleichfalls anders zu werden, und wenn dann das Ziel, das wir uns gesetzt, erreichbar wird, ist es schon nicht mehr ein Ziel für uns. Übrigens enthält schon der Gedanke: es ist erreichbar, es gibt kein Glück, das wir nicht endlich, wenn es für uns kein Glück mehr ist, erreichen könnten –, schon dieser Gedanke enthält ein Stück, aber auch nur ein Stück Wahrheit. Das Glück fällt uns zu, wenn wir gleichgültig dagegen geworden sind. Und gerade diese Gleichgültigkeit hat uns weniger anspruchsvoll gemacht und ermöglicht uns, rückblickend zu glauben, daß es uns entzückt hätte zu einer Zeit, in welcher es uns doch vielleicht sehr unvollkommen erschienen wäre. Man ist nicht sehr heikel und kein sehr guter Richter in Dingen, um die man sich gar nicht mehr kümmert. Die Liebenswürdigkeit eines Wesens, das wir nicht mehr lieben, kann jetzt unserer Gleichgültigkeit übertrieben vorkommen, während sie vielleicht bei weitem nicht unserer Liebe genügt hätte. Jetzt denken wir bei den zärtlichen Worten, der Aufforderung zu einem Rendezvous an die Freude, die sie uns bereitet hätten, nicht aber an all die andern Freuden, die wir damals gleich unmittelbar danach verlangten und durch unsere Gier vielleicht verhindert hätten. So ist es denn nicht sicher, daß das zu spät gekommene Glück – gekommen, wenn man es nicht mehr genießen kann, wenn man nicht mehr liebt – genau dasselbe Glück ist, dessen Entbehren uns ehedem so unglücklich gemacht hat. Darüber könnte nur ein