Da aber eine Theorie die Tendenz hat, ganz ausgedrückt zu werden, vervollständigte Swann, nach dieser ersten Minute der Gereiztheit (nachdem er sein Monocle abgewischt hatte), seinen Gedanken in Worten, die später in meinem Gedächtnis die Wichtigkeit einer prophetischen Warnung bekommen sollten, einer Warnung, die ich nicht beachtete. »Die Gefahr bei dieser Art Liebe ist, daß die Unterwerfung der Frau wohl die Eifersucht des Mannes für eine Weile beruhigt, aber auch anspruchsvoller macht. Es kommt soweit mit ihm, daß er seine Geliebte leben läßt wie die Gefangenen, bei denen Tag und Nacht Licht brennt, damit man sie besser bewachen kann. Und das endigt im allgemeinen mit Dramen.«
Ich kam auf Herrn von Norpois zurück. »Trauen Sie ihm nicht, er hat eine böse Zunge«, sagte Frau Swann, und ihr Tonfall schien mir darauf hinzudeuten, daß Herr von Norpois schlecht von ihr gesprochen habe; auch sah Swann seine Frau mit tadelndem Blick an und, als wollte er sie hindern, mehr zu sagen.
Indessen blieb Gilberte, die man schon zweimal gebeten hatte, sich zum Ausgehen fertig zu machen, bei uns zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater, an dessen Schulter sie sich schmeichlerisch lehnte. Nichts bildete auf den ersten Blick einen stärkeren Kontrast zu Frau Swann, die brünett war, als dieses junge Mädchen mit dem rotbraunen Haar und der goldblonden Haut. Aber nach einer Weile erkannte man bei Gilberte viele Züge – zum Beispiel die Linie der Nase, die der unsichtbare Künstler, dessen Meißel für mehrere Generationen arbeitet, mit heftiger unfehlbarer Entschiedenheit deutlich abgesetzt hatte –, dann den Ausdruck und die Bewegungen der Mutter. Um einen Vergleich aus einer anderen Kunst zu nehmen: sie sah wie ein noch nicht recht ähnliches Porträt von Frau Swann aus, die der Maler in einer Koloristenlaune halb verkleidet hätte Modell stehen lassen, wie im Begriff, sich als Venezianerin zu einem Diner mit Kopfmasken zu begeben. Da sie aber nicht nur eine blonde Perücke hatte, sondern auch jedes dunkle Atom aus ihrer Haut verbannt war, und diese, ihrer braunen Hüllen entkleidet, nackter und nur mit den Strahlen einer inneren Sonne angetan schien, war die Maske nicht oberflächlich, sondern eingefleischt; Gilberte sah aus, als stelle sie ein Fabelwesen dar oder als trage sie eine mythologische Vermummung. Gilbertes rötliche Haut war genau die ihres Vaters; als die Natur dies Kind schuf, hatte sie offenbar die Aufgabe zu lösen, Frau Swann nach und nach neu hervorzubringen und dabei als Materie nur die Haut von Herrn Swann zur Verfügung zu haben. Und die hatte sie in vollkommenster Weise ausgenutzt wie ein meisterlicher Holzschnitzer, der Maserung und Knorren am Holz sichtbar läßt. In Gilbertes Gesicht erschienen in der Haut an Odettes fehlerlos reproduziertem Nasenwinkel unverändert die beiden Schönheitsfleckchen von Herrn Swann. Sie war eine neue Spielart von Frau Swann und neben ihr wie weißer Flieder neben dem violetten gezüchtet. Gleichwohl darf man sich die Trennungslinie zwischen den beiden Ähnlichkeiten nicht absolut eindeutig vorstellen. Manchmal wenn Gilberte lachte, erkannte man das Oval der Backe ihres Vaters im Gesicht ihrer Mutter, als habe man diese beiden Dinge zusammengetan, um zu sehen, was die Mischung ergeben werde. Dies Oval wurde deutlicher, wie ein Embryo sich formt, es verlängerte sich schräg, schwoll an und war im Handumdrehen verschwunden. In Gilbertes Augen war der gute offene Blick ihres Vaters; den hatte sie gehabt, als sie mir die Achatkugel gab und sagte: »Heben Sie sie zum Andenken an unsere Freundschaft auf.« Stellte man aber an Gilberte eine Frage über das, was sie getan habe, so sah man in ebendiesen Augen die Verlegenheit, Unsicherheit, Verstellung und Trauer, die früher an Odette auffiel, wenn Swann sie fragte, wo sie hingegangen, wobei sie ihm eine der verlegenen Antworten gab, die damals den Liebhaber zur Verzweiflung brachten und jetzt den nicht neugierigen und vorsichtigen Gatten veranlaßten, unvermittelt das Thema zu wechseln. Oft wurde ich unruhig, wenn ich in den Champs-Élysées diesen Blick bei Gilberte zu sehen bekam. Aber meistens mit Unrecht. Denn bei ihr entsprach die rein physische Erbschaft der Mutter in diesem Blick – wenigstens in diesem – keinem seelischen Vorgang. Wenn sie zu ihrem Kursus ging, wenn sie zu einer Lektion nach Hause mußte, führten Gilbertes Pupillen die Bewegung aus, die einst in Odettes Augen die Furcht hervorrief, zu verraten, daß sie im Lauf des Tages einen Liebhaber empfangen habe oder in Eile war, um sich zu einem Stelldichein zu begeben. So sah man die beiden Naturen der Eltern in dem Körper dieser Melusine fluten, weichen und abwechselnd eine die andre meistern.
Wohl ist ein Kind dem Vater wie der Mutter ähnlich, allein vererbte Fehler und Vorzüge verteilen sich sehr seltsam in ihm; von zwei Eigenschaften, die bei dem Vater untrennbar schienen, findet man im Kinde nur die eine und zwar verbunden mit jenem Fehler der Mutter, der gerade mit ihr unvereinbar schien, und umgekehrt. Verkörperung einer seelischen Eigenschaft in einem mit ihr unverträglichen physischen Fehler ist ein häufig nachweisbares Gesetz kindlicher Ähnlichkeit. Von zwei Schwestern kann die eine mit dem stolzen Wuchs des Vaters den kleinlichen Geist der Mutter verbinden; die andere bietet des Vaters Geist, der sie ganz erfüllt, der Welt unter der äußeren Erscheinung der Mutter dar; die dicke Nase, der stämmige Bauch, ja sogar die Stimme der Mutter sind bei ihr Einkleidungen geworden von Gaben, die man in einem herrlichen Äußeren kannte. So kann man von jeder der beiden Schwestern mit gleicher Berechtigung sagen, daß sie mehr dem Vater oder mehr der Mutter gleicht als die andere. Allerdings war Gilberte das einzige Kind, aber es gab mindestens zwei Gilberten. Die beiden Naturen der Eltern mischten sich nicht nur in ihr, sie machten das Kind einander streitig, und auch das ist noch ein ungenauer Ausdruck und ließe vermuten, daß während der Zeit eine dritte Gilberte darunter litt, die Beute der beiden andern zu sein. Gilberte war abwechselnd die eine und die andere und immer nur ausschließlich die eine oder andre, das heißt außerstande, wenn sie gerade weniger gut war, darunter zu leiden, da die bessere Gilberte, infolge ihrer augenblicklichen Abwesenheit, diese Entartung nicht feststellen konnte. So stand es der weniger guten frei, sich unedler Vergnügung zu erfreuen. Sprach die andere mit dem Herzen ihres Vaters, so hatte sie weite Gesichtspunkte, man hätte mit ihr ein schönes, wohltätiges Unternehmen ins Werk setzen wollen; das sagte man ihr, aber im Augenblick der Entscheidung war schon wieder das Herz der Mutter an der Reihe; und dann gab dies die Antwort; man war enttäuscht, verwirrt – fast beunruhigt, wie angesichts einer Vertauschung der Personen – durch eine hämische Bemerkung, eine gemeine Grimasse, in der Gilberte sich gefiel, da sie aus dem stammten, was in diesem Moment gerade ihre eigne Natur war. Der Abstand zwischen beiden Gilberten war bisweilen so groß, daß man sich, übrigens vergeblich, fragte, was man ihr angetan habe, um sie so verändert zu finden. Zu dem Stelldichein, das sie uns selbst vorgeschlagen, kam sie