»Ich spiele mit Fräulein Swann in den Champs-Élysées, sie ist entzückend.«
»Schau, schau! Ich hatte in der Tat den Eindruck, daß sie reizend ist. Allerdings muß ich Ihnen bekennen, ich glaube nicht, daß sie je ihrer Mutter gleichkommen wird, wenn ich das sagen darf, ohne in Ihnen ein allzu lebhaftes Gefühl zu verletzen.«
»Der Gesichtsbildung nach finde ich Fräulein Swann schöner, aber ich bewundere auch ihre Mutter außerordentlich, ich gehe im Bois spazieren einzig in der Hoffnung, sie vorbeifahren zu sehen.«
»Das muß ich den Damen sagen, sie werden sehr geschmeichelt sein.«
Während Herr von Norpois diese Worte sprach, wußte er noch einige Sekunden lang nicht mehr von mir als alle, die mich etwa von Swann als einem intelligenten Manne reden hörten, von seinen Eltern als ehrenwerten Wechselmaklern, von seinem Haus als einem schönen Hause, und glaubten, ich würde ebenso gern von einem anderen ebenso intelligenten Manne, anderen ebenso ehrenwerten Wechselmaklern und einem anderen ebenso schönen Hause sprechen; es ist der Augenblick, in dem ein geistig gesunder Mensch, der mit einem Verrückten sich unterhält, noch nicht gemerkt hat, daß es ein Verrückter ist. Herr von Norpois wußte, daß die Freude am Anblick hübscher Frauen natürlich, daß es, wenn jemand mit Wärme von einer dieser Frauen spricht, guter Ton ist, zu tun, als halte man ihn für verliebt, ihn damit zu necken, ihm zu versprechen, seine Absichten zu unterstützen. Als er aber sagte, er werde Gilberte und ihrer Mutter von mir sprechen (und das erweckte in mir die Hoffnung, wie eine olympische Gottheit, die das Fließende eines Hauchs, wie Minerva, die die Erscheinung des Greises annimmt, selbst unsichtbar in den Salon von Frau Swann einzudringen, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ihre Gedanken zu beschäftigen, Dankbarkeit für meine Bewunderung zu wecken und ihr als Freund eines bedeutenden Mannes künftighin würdig zu erscheinen, bei ihr eingeladen zu werden und mit ihrer Familie in vertrauten Verkehr zu treten), – da flößte mir dieser bedeutende Mann, der sein Ansehen in den Augen von Frau Swann zu meinen Gunsten benutzen wollte, plötzlich eine solche Zärtlichkeit ein, daß ich mich nur mit knapper Not enthalten konnte, ihm seine weichen weißen, etwas zerknitterten Hände, die aussahen, als hätten sie zu lange in Wasser gelegen, zu küssen. Fast deutete ich skizzenhaft diese Gebärde an, meinte aber, dies nur allein zu bemerken. Es ist ja für jeden von uns schwer, genau zu berechnen, in welchem Grade sich seine Worte und Bewegungen anderen einprägen. Wir fürchten die eigene Wichtigkeit zu übertreiben, wir vergrößern bei uns bis ins Ungemessene das Feld, auf das sich die Erinnerungen der anderen im Lauf ihres Lebens erstrecken mögen, und bilden uns dann ein, das Zubehör unserer Reden und Haltungen könne kaum in das Bewußtsein derer, welche mit uns sprechen, dringen, geschweige denn in ihrem Gedächtnis haften bleiben. Eine derartige Vermutung veranlaßt die Verbrecher, nachträglich ein Wort zu retuschieren, das sie ausgesprochen haben und von dem sie nun annehmen, man könne die neue Variante mit keiner anderen Version konfrontieren. Und doch ist es wohl möglich, daß selbst für das tausendjährige Leben des Menschengeschlechtes die Weltanschauung des Feuilletonisten, nach der alles dem Vergessen ausgesetzt ist, weniger zutrifft als eine entgegengesetzte, welche die Erhaltung aller Dinge vorhersagt. In einer Zeitung, in welcher der Leitartikel-Philosoph von einem Ereignis, einem Meisterwerk oder, mit mehr Grund, von einer Sängerin, die »die Stunde ihres Ruhmes hat«, sagt: »Wer wird sich in zehn Jahren noch all dessen entsinnen?« – steht vielleicht auf der dritten Seite ein Bericht der Academie des Inscriptions über ein an sich wenig wichtiges Faktum, ein Gedicht von geringem Wert, das aus der Zeit der Pharaonen stammt und noch vollständig erhalten ist. Vielleicht ist es nicht ganz dasselbe im kurzen Menschenleben. Und doch überraschte mich ein Erlebnis, das ich ein paar Jahre später in einem Hause hatte, in dem Herr von Norpois zu Besuch war: ich meinte dort an ihm die beste Stütze zu haben, weil er meines Vaters Freund, nachsichtig, uns allen gegenüber zum Wohlwollen geneigt und überdies durch Herkunft und Beruf an Diskretion gewöhnt war. Als er aber fortgegangen war, erzählte man mir, er habe eine Anspielung gemacht auf eine frühere Gesellschaft, bei der er mich »drauf und dran gesehen habe, ihm die Hände zu küssen«; und ich wurde nicht nur rot bis über die Ohren, ich war auch ganz verblüfft, wie sehr die Art und Weise, in der er von mir gesprochen, und der ganze Aufbau seiner Erinnerungen von meinen Erwartungen abstach; dieser »Klatsch« klärte mich auf über die unerwarteten Proportionen, die im menschlichen Geiste Zerstreutheit und Geistesgegenwart, Erinnerung und Vergessen gewinnen: und ich war ebenso gewaltig überrascht wie an dem Tage, als ich zum ersten Male in einem Buch von Maspero las, daß man die genaue Liste der Jäger besitzt, die Assurbanipal zehn Jahrhunderte vor Christi Geburt zur Treibjagd eingeladen hat.
»Ach, Herr von Norpois,« sagte ich, als er mir zu verstehen gab, er werde Gilberte und ihrer Mutter die Bewunderung mitteilen, die ich für beide hegte, »wenn Sie das täten, wenn Sie zu Frau Swann von mir sprächen, mein ganzes Leben würde nicht hinreichen, meine Dankbarkeit Ihnen zu beweisen, es würde Ihnen gehören, dieses Leben! Aber ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß ich Frau Swann nicht persönlich kenne und ihr nie vorgestellt worden bin.« Die letzten Worte hatte ich aus Gewissenhaftigkeit hinzugefügt, es sollte nicht so aussehen, als rühme ich mich einer Beziehung, die ich nicht besaß. Aber schon beim Aussprechen fühlte ich das Nutzlose meiner Worte, denn mit dem Beginn meiner Dankesergüsse, deren Glut offenbar abkühlend wirkte, sah ich ein verdrossenes Zögern über das Gesicht des Botschafters gehen und bemerkte in seinen Augen jenen vertikalen, schrägen, kargen Blick (Fluchtlinie einer stereometrischen Zeichnung), jenen Blick, der sich an den unsichtbaren Unterredner im eigenen Innern wendet im Moment, da man ihm etwas zu sagen hat, das der andere Unterredner, der Herr, mit dem man bisher sprach – im gegebenen Fall also ich – nicht vernehmen soll. Augenblicklich wurde mir klar: meine eben ausgesprochenen Worte, – so schwach im Vergleich mit dem Strom von Dankbarkeit, der mich überflutete, – die Herrn von Norpois rühren und endgültig zu einer Vermittlung bestimmen sollten, die ihm so wenig Mühe, mir so viel Freude gemacht hätte, waren vielleicht (unter allen, die Übelwollende teuflischerweise ausfindig machen konnten) die einzigen, die zu bewirken vermochten, daß er von dieser Vermittlung absah. Herr von Norpois hörte die Worte, und es erging ihm, wie es uns ergeht, wenn wir mit einem Unbekannten über Vorübergehende, die wir übereinstimmend banal finden, mit Behagen vermeintlich ähnliche Eindrücke austauschen und dieser Mensch uns mit einmal den pathologischen Abgrund zeigt, der ihn von uns trennt, indem er nach seiner Tasche tastend nachlässig äußert: »Zu schade, daß ich meinen Revolver nicht bei mir habe, es bliebe keiner von den Kerlen am Leben.« Obwohl Herr von Norpois wußte, daß nichts belangloser und leichter war als Frau Swann empfohlen und bei ihr eingeführt zu werden, sah er nun, daß dies für mich etwas sehr Wertvolles und somit ohne Zweifel Schwieriges bedeute. Da dachte er, daß hinter meinem anscheinend normalen Begehren ein Hintergedanke, eine verdächtige Absicht, ein früherer Verstoß sich verbergen müsse, derentwegen es bisher niemand hatte auf sich nehmen wollen, Frau Swann einen Auftrag von mir zu übermitteln – im sicheren Gefühl, damit nur Mißfallen bei ihr hervorzurufen. Und ich begriff, nie werde er diesen Auftrag ausrichten, jahrelang könne er Frau Swann täglich sehen, ohne ihr nur ein einziges Mal von mir zu sprechen. Indessen bat er sie einige Tage später um eine Auskunft, die ich gewünscht hatte, und beauftragte meinen Vater, mir diese zu übermitteln. Aber er hatte es nicht für nötig erachtet, Frau Swann zu sagen, für wen er die Auskunft erbat. Sie sollte also nicht erfahren, erstens, daß ich Herrn von Norpois kannte, und zweitens, daß ich so sehr wünschte, sie zu besuchen: und dies Unglück war vielleicht nicht so groß, als ich glaubte. Denn die zweite Mitteilung hätte vermutlich die so schon ungewisse Wirksamkeit der ersten nicht verstärkt. Für Odette hatte die Vorstellung ihres eigenen Lebens und ihrer Wohnung nichts geheimnisvoll Verwirrendes, und jemand, der sie kannte und besuchte, schien ihr kein Fabelwesen, wie er für mich es war, für mich, der ich einen Stein in die Fenster der Swann geworfen hätte, wenn ich darauf »ich kenne Herrn von Norpois« hätte schreiben können: war ich doch überzeugt, eine solche Botschaft, selbst auf derart brutale Weise übermittelt, würde mir in den Augen der Herrin des Hauses eher großes Ansehen geben als sie gegen mich verstimmen. Aber selbst wenn