Der erste Januar kam, und ich machte zunächst Familienbesuche mit Mama, die sie, um mich nicht zu ermüden (nach einem Plan, den mein Vater angegeben hatte), mehr nach Stadtteilen als nach dem genauen Grade der Verwandtschaft einteilte, Kaum waren wir aber in den Salon einer ziemlich entfernten Kusine eingetreten, die nur, weil ihre Wohnung dies von unserer gerade nicht war, zuerst drankam, da widerfuhr meiner Mutter der Schrecken, daß vor ihr, seine kandierten Maronen in der Hand, der beste Freund des empfindlichsten meiner Onkel stand, dem er sicher ausplaudern würde, daß wir unsere Tournée nicht bei ihm angefangen hätten. Sicher würde der Onkel beleidigt sein; er hätte es nur natürlich gefunden, daß wir von der Madeleine erst zum Jardin des Plantes kämen, wo er wohnte, statt auf dem Wege nach der rue de l'École de Médecine bei Saint-Augustin haltzumachen.
Als die Besuche erledigt waren (meine Großmutter erließ uns den bei ihr, da wir an diesem Tage ja zum Essen zu ihr kamen), lief ich bis in die Champs-Élysées zu unserer Verkäuferin und brachte ihr zur Übergabe an die Person, die mehrmals in der Woche von den Swann kam, um Honigkuchen zu holen, den Brief, den ich, seit mir meine Freundin so viel Kummer gemacht, ihr zu Neujahr zu senden beschlossen hatte; darin erklärte ich ihr, unsere alte Freundschaft verschwinde mit dem alten Jahr, Gram und Enttäuschung vergäße ich, und vom ersten Januar ab wollten wir eine neue Freundschaft aufbauen, so fest, daß nichts sie zerstören könne, so wunderbar, daß ich hoffe, Gilberte werde einige Koketterie dareinsetzen, sie in all ihrer Schönheit zu erhalten, und mich rechtzeitig warnen, wie auch ich meinerseits dies zu tun verspreche, sobald dieser Freundschaft die kleinste Gefahr drohe. Auf dem Rückwege blieb Françoise an der Ecke der Rue royale in Wind und Wetter vor einer Auslage mit mir stehen, aus der sie für sich selbst als Neujahrsgeschenk Photographien von Pius IX und Raspail auswählte. Ich kaufte für mich eine der Berma. Die vielfältige Bewunderung, die die Künstlerin erregte, gab dem einen einzigen Gesicht, mit dem sie so vielem entsprechen mußte, etwas Ärmliches, es wirkte unabänderlich und schien prekär wie das einzige Kleidungsstück derer, die keins zum Wechseln haben. Sie hatte nichts darzubieten als immer wieder nur die kleine Falte über der Oberlippe, den hohen Schwung der Brauen und noch einige immer gleichbleibende körperliche Besonderheiten, die dem Zufall einer Brandwunde oder eines Stoßes beständig ausgesetzt waren. Dies Antlitz wäre mir an sich nicht schön erschienen, doch gab es mir die Vorstellung und so die Lust, es zu küssen um all der Küsse willen, die es schon geduldet hatte und die es zu fordern schien, hierin seiner Albumphotographie, mit dem zärtlich kokettierenden Blick und dem künstlich unbefangenen Lächeln. Die Berma mußte in der Tat zu sehr vielen jungen Männern jenen Drang empfinden, den sie unter der Deckung ihrer ›Phèdre‹ bekannte, und alles mußte ihr die Stillung dieses Dranges erleichtern, schon der Nimbus ihres Namens, der ihre Schönheit erhöhte und ihre Jugend verlängerte. Es wurde Abend, ich blieb vor einer Anschlagsäule stehen, auf der die Vorstellung, welche die Berma am ersten Januar gab, angezeigt war. Ein sanfter, feuchter Wind wehte. Ich kannte dies Wetter; ich hatte die Empfindung, das Vorgefühl, der Neujahrstag sei nicht verschieden von den anderen Tagen, sei nicht der erste einer neuen Welt, in der ich mit noch unerprobtem Glück noch einmal die Bekanntschaft Gilbertes machen könne, wie um die Zeit der Schöpfung, wie als wenn es noch keine Vergangenheit gäbe, als wären sie alle aufgehoben mitsamt allen für die Zukunft deutbaren Anzeichen, die Enttäuschungen, die Gilberte mir bisweilen bereitet hatte: eine neue Welt, in der nichts von der alten zurückblieb – nichts als das eine: mein Verlangen, von Gilberte geliebt zu werden. Ich begriff: wenn mein Herz rings um sich her die Erneuerung eines Universums ersehnte, von dem es nicht befriedigt war, so lag das daran, daß eben dieses Herz sich nicht geändert hatte, und ich sagte mir, es gäbe keinen Grund, daß sich Gilbertes Herz mehr geändert haben sollte; ich fühlte, diese neue Freundschaft war nicht neu. Es trennt ja auch kein Graben von den alten die neuen Jahre, denen unser Verlangen, ohne sie ereilen oder abändern zu können, eigenmächtig einen unterscheidenden Namen aufzwingt. Umsonst, daß ich dies Jahr Gilberte weihte, und, wie man über die blinden Naturgesetze eine Religion lagert, versuchte, dem Neujahrstag die besondere Vorstellung, die ich von ihm mir gemacht hatte, aufzuprägen, umsonst! Er wußte nicht, daß man ihn Neujahrstag nannte, das fühlte ich; er endete in der Dämmerung auf eine Art, die mir nicht neu war; im sanften