»Stell dich schlafend, Bob«, raunte Way-te-ta, »ich schneide die Riemen durch. Wir müssen fort.«
»Fort? Wohin?« flüsterte der Riese zurück.
»Zu den Frenchers. Sind nicht weit von hier. Keine Meile. Way-te-ta hat ihr Lager gefunden.«
Bob hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken. Redete der Mann irre? Sprach er die Wahrheit? Hauptsache, er schneidet erst einmal meine Fesseln durch, dachte Bob.
Das war schon Sekunden später geschehen. Klugerweise hielt der Bootsmann die entfesselten Arme einstweilen in der gleichen Lage; auch die durchschnittenen Riemen ließ er scheinbar unberührt liegen. Leise stieß er den neben ihm schlafenden Farmer an, weckte ihn und flüsterte ihm zu, was Way-te-ta gesagt hatte.
»Müssen's versuchen, Bob«, flüsterte Burns zurück. »Spricht der arme Kerl die Wahrheit, kann's unsere Rettung sein.« Er weckte seinerseits Richard Waltham, der sofort begriff und auch entschlossen war, die Flucht zu wagen.
Sie blickten sich vorsichtig um. Die Feuer waren nahezu erloschen, und die Indianer schliefen, anscheinend auch der Mann, dessen Aufgabe es war, sie zu bewachen. Sie lagen am Rande des Lagers unter einer starken Eiche; ein paar Sprünge genügten, um hinter den Büschen unterzutauchen. Aber was dann? War der doch offensichtlich geistesgestörte Mann wirklich in der Lage, sie zu den Franzosen zu geleiten? Würden sie nicht nur in eine andere Falle laufen?
Way-te-ta lag ganz ruhig, aber seine Augen funkelten und huschten durch das in nächtlichem Schweigen liegende Lager. Nach einem Weilchen wandte er sich dem Bootsmann zu und zischte: »Jetzt Zeit, Bob. Erst Blondhaar hinter Baum, dann alter Mann! Du neben roten Krieger legen. Wenn er erwacht, Mund halten! Oder töten!«
Mit der Geräuschlosigkeit und Geschmeidigkeit einer Katze erhob sich der Irre. Bob brachte sich in eine sitzende Stellung, die Augen auf den neben ihm liegenden Indianerkrieger gerichtet. Aber der Mann schien tatsächlich zu schlafen; er regte sich nicht. Mit aller erdenklichen Vorsicht erhob der Bootsmann sich auf die Knie und richtete sich dann zu seiner ganzen stattlichen Größe auf. Die anderen waren bereits im Baumschatten untergetaucht. Der Krieger regte sich nicht. Da trat auch Bob hinter den Baumstamm.
»Hinter mir gehen«, flüsterte Way-te-ta. »Müssen durch den Bach.« Ein langer Sprung brachte den schwerfälligen Bootsmann hinter die Büsche, wo die anderen schon schweratmend warteten. Von Way-te-ta geführt, tappten sie durch die Dunkelheit und fühlten plötzlich das weiche Bett eines seichten Baches unter den Füßen. Es war schon dunkel hier, daß nur das ihre Füße umplätschernde Wasser ihnen die Richtung angab. Der Irre schien im Dunkeln sehen zu können, so unbeirrt sicher ging er seinen Weg. Die Zweige über ihnen rauschten im Nachtwind; sie sprachen kein Wort, ja, sie mühten sich noch, den Atem zurückzuhalten. Jeden Augenblick fürchteten sie, den Alarmruf der Indianer zu vernehmen. Aber nichts unterbrach die Stille. Es war ein düsterer und unebener Weg, den sie mehr hinabtasteten als gingen. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts, da sich ihnen fortgesetzt unsichtbare Hindernisse entgegenstellten. Dann wurde es allmählich lichter, sie erblickten den Sternenhimmel über sich und vor sich eine von Büschen durchsetzte Grasebene. Und nun sahen sie – sie hätten schreien mögen – auch die Wachfeuer der Franzosen.
»Dort Frenchers, Bob«, flüsterte Way-te-ta, zu den Feuern hinüber deutend. »Dort Skalp sicher. Way-te-ta Oneidakrieger. Sehr schlau!«
»Wahrhaftig, mein Junge, das soll wahr sein«, knurrte Bob und drückte dem blonden Manne die Hand, als wolle er sie zerbrechen.
Der Irre kicherte: »Huronen Hunde! Nur Oneida sind Krieger! Die Schakale sollen Bobs Skalp nicht haben. Bob – Bob – Bob?« Das Wort hing wie eine Frage in der Luft.
Durch eine Art von Büschen gesäumten Hohlweges schritten sie den französischen Wachfeuern entgegen. Sie mochten kaum hundert Schritte gegangen sein, als eine scharfe Stimme sie anrief, während gleichzeitig ein Gewehrhahn knackte: »Qui vive?«
»Freunde!« antwortete Richard Waltham in geläufigem Französisch. »Wir suchen den Schutz der französischen Armee.«
Der Soldat stieß einen Ruf aus, der von rückwärts und von beiden Seiten erwidert wurde. »Attention!« rief er gleich darauf den Ankömmlingen zu. Sechs Männer mit Kienfackeln in den Händen kamen heran, unter ihnen ein Sergeant. Das Licht der Fackeln beleuchtete die abgerissenen und verdreckten Gestalten der Flüchtlinge; der Sergeant musterte sie mit offensichtlichem Mißtrauen. »Wer seid ihr? Was wollt ihr?« fragte er schließlich.
»Wir waren in die Hände von Huronen gefallen und sind ihrem Lager soeben entflohen, Monsieur«, antwortete Waltham, ohne zu zögern. »Wir stellen uns unter das Völkerrecht und erbitten den Schutz der französischen Truppen.«
Der Sergeant, auf solche Weise in tadellosem Französisch angeredet, schien eine etwas bessere Meinung zu fassen; er sagte weniger barsch: »Ihr seid Engländer?«
»Jawohl, Monsieur, wir sind Untertanen der englischen Kolonie.«
»So muß ich euch gefangennehmen, Messieurs!«
»Wir fügen uns selbstverständlich und erwarteten nichts anderes.«
»Gut. Dann kommt mit.« Der Sergeant ging voran, die mit ihm gekommenen Soldaten nahmen die Flüchtlinge in die Mitte; gemeinsam schritten sie dem Lager entgegen. An niedergebrannten Wachfeuern schliefen rundum französische Liniensoldaten. Der Sergeant ließ die Gruppe bei einem der Feuer halten und begab sich zu einem Zelt, um dem Offizier vom Dienst Bericht zu erstatten.
Er kehrte bald darauf mit einem jungen, gut aussehenden Leutnant zurück. Der Offizier schien zunächst nicht weniger mißtrauisch als sein Sergeant; er betrachtete die verwilderten Gestalten mit abschätzigen Blicken, besonders den phantastisch aufgeputzten Irren, in dessen Augen es unstet flackerte. Er wandte sich dann dem jungen Waltham zu, dessen Haltung und Gesichtszüge ihm das meiste Vertrauen einflößen mochten. In kurzen Worten fragte er nach dem Woher und Wohin.
»Der Krieg hat uns überrascht, Herr Leutnant«, antwortete Waltham auf Französisch; »er hat uns ohne unser Zutun in die Wälder getrieben. Wir mußten diesen Weg nehmen, da der Ontario, an dem wir wohnen, von Ihren Kriegsschiffen beherrscht wurde. Wir sind einer Abteilung der Ihnen verbündeten Huronen in die Hände gefallen und wurden in das etwa eine Meile von hier befindliche Indianerlager gebracht. Wir hatten in der Gewalt dieser Leute Grund, für unser Leben zu fürchten; deshalb benutzten wir eine günstige Gelegenheit, um zu fliehen und uns unter den Schutz der französischen Flagge zu begeben. Sie sehen friedliche Leute vor sich, die der Krieg unversehens unterwegs überraschte. Dies ist Monsieur Burns, ein Pflanzer vom Genesee, dies Monsieur Green, ein Bootsmann vom Ontario; jener Mann dort ist ein armer Geisteskranker, von dessen Herkunft wir nichts wissen; er schloß sich uns unterwegs an. Ich selbst bin Lord Somerset, Pair von England.«
»Wie beliebt?« fuhr der Offizier auf und starrte den Sprechenden an. »Wer sind Sie?«
»Lord Somerset, Monsieur. Bis vor wenigen Tagen noch Sir Richard Waltham.«
»Sonderbar! So hätten wir zwei Lord Somersets im Lager? Die Familie scheint weit verbreitet zu sein.« Aus den Worten des Offiziers klang leichter Spott.
»Es gibt selbstverständlich nur einen Pair dieses Namens«, antwortete Waltham ruhig, »aber ich entnehme Ihren Worten, daß mein Vetter Sir Edmund Hotham in Ihrem Lager weilt. Er hat keinen Anspruch auf den Titel, der ihm nur für den Fall meines Todes zugefallen wäre. Das alles wird sich herausstellen. Übrigens können Ihnen die beiden Männer hier« – er wies auf Burns und Bob Green – »in dieser Beziehung schon einige Auskunft geben.« Waltham hatte das alles mit so ruhiger und dabei selbstbewußter Würde vorgebracht, daß seine Worte ihren Eindruck auf den jungen Franzosen nicht verfehlten.
»Eine