Es mag in jenem Jahre oder auch etwas früher gewesen sein, dass ich zum ersten Mal meine eigene Bekanntschaft machte. Im großen Zimmer in Obereßlingen waren zwischen den Fenstern zwei lange schmale Wandspiegel eingelassen, die auf einem niedrigen, rings umlaufenden Sockel ruhten. Eines Tages, ob es nun Wirkung der Beleuchtung oder sonst ein Zufall war, blieb ich plötzlich betroffen mitten im Zimmer stehen und starrte in einen dieser Spiegel, der mir mein eigenes Bild entgegenhielt. Ein leiser Schauder überlief mich, und ich dachte einen niegedachten Gedanken: Also das bin ich! Zwischen Scheu und Wißbegier trat ich ganz nahe hinzu und musterte das schmale, durchscheinende Kindergesicht, das fast nur aus Augen bestand, aus großen, erstaunten Augen, die mich rätselhaft und forschend anblickten, wie ich sie: Also das sind meine Augen, meine Stirn, mein Mund! Mit diesem Gesicht, mit diesen Gliedern muss ich nun immer beisammen sein und alles mit ihnen gemeinsam erleben! – Dieser Frater Corpus, der »Bruder Leib«, den ich da plötzlich vor mir sah, schien mir aber keineswegs mein Ich zu sein, sondern ein eben auf mich zugetretener Weggenosse, mit dem ich jetzt weiter zu pilgern hätte. Und es kam mir vor, als wäre eine Zeit gewesen, wo wir zwei uns noch gar nichts angingen. Bisher war mir nämlich meine Körperlichkeit nur bewusst geworden, wenn ich mir eine Beule an die Stirn rannte oder mit der großen Zehe gegen einen Stein stieß. Es war auch bloß ein kurzer Augenblick der Befremdung, in dem mich dieses unfassbare Zweisein berührte. Die frühe Kindheit mag solchen halb metaphysischen Empfindungen zugänglicher sein als die reifgewordene Jugend, die im unbändigen Stolz ihrer physischen Kraft und Herrlichkeit vielmehr den Bruder Leib für den eigentlichen Menschen ansieht.
In die gleiche Zeit fiel eine andere erschütterndere Entdeckung. Ich sah eines Tages durchs Fester eine Schar schwarzgekleideter Männer vorübergehen und einen mit schwarzem Tuch verhüllten Gegenstand tragen, der mir wie ein großer Koffer erschien. Der Anblick berührte mich peinlich, und Christine, unser neues Kindermädchen, das seit kurzem im Hause war, sagte auf meine Frage, das sei eine Leiche, mit der die Leute auf den Kirchhof gingen. – Was ist eine Leiche? fragte ich mit Widerwillen, denn ich hatte das Wort noch nie gehört, und es klang mir fremd und unheimlich. Sie antwortete, das sei ein toter Mensch. Ich wunderte mich, dass auch Menschen sterben sollten, denn ich hatte gemeint, das sei ein übler Zufall, der nur Vögel, Hunde, Katzen und solches Getier betreffe. Christine wollte mich auf andere Gedanken bringen, aber nun ließ ich nicht mehr los, sondern stürzte zur Mutter: Ist es wahr, dass Menschen sterben? – Wer hat dir das gesagt? – Die Christine. – Ich sah gleich, dass die Christine ein Verbot übertreten hatte. – Armes Kind, sagte mein Mütterlein, du hättest es noch lange nicht erfahren sollen. Aber jetzt ist es heraus. Ja, es ist wahr, die Menschen sterben. – Aber doch nicht alle, Mama? – Ja, Kind, alle. – Sie hielt mich im Arme, wie um mich zu schützen und zu trösten, ich war aber mit dem Gedanken noch lange nicht so weit. – Aber doch du nicht, Mama? – Ich auch, Kind. Alle. – Aber der Papa doch nicht? – Auch der Papa. – Also vielleicht auch ich? – Auch du, aber erst in langer, langer Zeit. Wir alle erst in langer Zeit. – Und man kann gar nichts dagegen tun? Es muss kommen? – Gar nichts, Kind, es muss kommen, aber jetzt noch lange nicht.
Das war mir durchaus kein Trost, die lange Zeit, von der sie sprach, war in diesem Augenblick schon vorüber. Ein schwarzer, furchtbarer Abgrund ging auf, der alles verschluckte. Ja, wenn es doch kommen musste, dann lieber gleich, als diese lange dunkle Erwartung. Ein plötzlich eintretender Zufall schien mir lange nicht so schauerlich wie dieses unausweichliche »Später«. Dennoch wirkte die Mitteilung nicht eigentlich überraschend. Es war mir, als hörte ich da etwas, das ich zuvor schon gewusst, aber wieder vergessen hätte. Ich dachte fortan oft über das Sterben nach, und die Unerbittlichkeit des Vorausbestimmten erfüllte mich mit immer neuem Grausen: Also einmal muss es sein, jeder Tag bringt mich dem letzten Ziele näher. Und wenn ich mich unter das Kleid der Mama verkröche, es würde mir doch nichts nützen. Und wenn ich sogar zum Papa ginge, auch er könnte mir nicht helfen. Niemand, niemand kann mir helfen, ganz allein stehe ich dem Furchtbaren gegenüber – dem Tod! Dabei war mir zumute, als befände ich mich in einem langen, engen Gang, wo kein Entrinnen, keine Umkehr möglich, und am Ende des Ganges, da warte es auf mich, das Rätselhafte, Unbegreifliche; ich aber müsse immer weiter, so gerne ich stehenbliebe, unaufhaltsam, Schritt für Schritt bis zum gefürchteten Ausgang. Natürlich wurde trotz dem unheimlichen »Später« fortgetollt, als wäre alles wie zuvor, und niemand erfuhr, was in dem kleinen Seelchen vorging. Aber mitten im Spielen schlug es zuweilen herein: Trotz alledem – es wird doch einmal ein Tag kommen, wo ich kalt und starr daliege, wo ich selber eine Leiche bin. Das Wort behielt mir auf lange hinaus etwas unsäglich Widriges und Abscheuliches, es haftete ihm schon ein Geruch wie von Verwesung an.
Auch das gehört für mich zu den Rätseln der Kinderseele, dass mir die Entdeckung des Todes als des allgemeinen Schicksals so neu und überwältigend war, während ich doch ganz frühe schon das mannigfachste Lesefutter, und gewiss nicht immer auf das dunkle Geheimnis hin gesichtet, in die Hände bekam. So las ich seit lange in einem Bande Pfennigmagazin, der in der Kinderstube lag, Geschichten und Abhandlungen über alle möglichen Dinge wahllos durcheinander; die Tatsache des Sterbenmüssens hatte ich schlechterdings übersehen. Wahrscheinlich ist der kindliche Geist nicht imstande, die Erscheinungen zu verknüpfen und zu verallgemeinern. Es gibt ja auch Negerstämme, die jeden Todesfall immer wieder als dämonischen Einzelvorgang betrachten, auf den sie mit Teufelsaustreibung antworten, damit er sich inskünftige nicht mehr wiederhole.
Im Lernen konnte unser gutes Mütterlein, das selber einen nie zu stillenden Wissenstrieb besaß, uns zwei Älteste nicht schnell genug vorwärts bringen. Einzig für das Rechnen, das ihr selber nicht allzu geläufig war, wurde ein junger Hilfslehrer aus Esslingen angestellt, ein bäurischer Mensch, der den unachtsamen Alfred etwas derb mit dem schweren Taschenmesser auf die Fingerknöchel klopfte und sich sogar einmal gegen Edgars junge Majestät verging, sodass Mama ihn entrüstet wieder entließ. Davon hatte ich den Schaden, weil ich gerade im Bruchrechnen stehenblieb, das die Brüder später in der Schule fortsetzen