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zu den Flo­ren­ti­ni­schen Erin­ne­run­gen,2 in de­nen ich die Cha­rak­ter­bil­der mei­ner ver­stor­be­nen Brü­der ein­zeln ge­zeich­net habe. Da ich bei Nie­der­schrift der ge­nann­ten Bü­cher nicht dar­an dach­te, auch ein­mal die ei­ge­ne Ent­wick­lung zu er­zäh­len, sind in bei­den ge­le­gent­lich Din­ge vor­weg­ge­nom­men, die hier mit grö­ße­rer Aus­führ­lich­keit be­han­delt sein woll­ten. Die Art des Ent­ste­hens die­ser Auf­zeich­nun­gen be­ding­te ihre Ein­tei­lung in ge­schlos­se­ne Ka­pi­tel, die nicht streng chro­no­lo­gisch, son­dern nach der in­ne­ren Ord­nung ge­glie­dert sind. Doch bin ich hier­in nur dem Ge­setz des Ge­dächt­nis­ses ge­folgt, das gleich­falls die Er­eig­nis­se nicht am lan­gen Fa­den auf­rei­ht, son­dern das Zu­sam­men­ge­hö­ri­ge, auch wenn es zeit­lich ge­trennt ist, an­ein­an­der­knüpft.

      Na­tür­lich kann das Bild, das ich von mei­ner da­ma­li­gen Um­welt gebe, kein voll­stän­di­ges sein. Es ha­ben wert­vol­le Men­schen mei­nen Ju­gend­weg ge­kreuzt, de­ren hier kei­ne oder nur flüch­ti­ge Er­wäh­nung ge­schieht, weil ich sonst von der vor­ge­setz­ten Rich­tung zu weit ab­ge­lenkt wür­de. Die Wahl der ein­ge­führ­ten Per­so­nen be­stimmt sich ein­zig nach ih­rem Ein­fluss auf mei­nen Wer­de­gang. Und ein sol­cher Ein­fluss hängt ja weit we­ni­ger von der wirk­li­chen Be­deu­tung ei­ner Per­sön­lich­keit ab als von dem Zeit­punkt, wo un­se­re Le­bens­we­ge sich schnei­den.

      Auch wun­de­re man sich nicht, wenn man in mei­nen Erin­ne­run­gen Größ­tes und Kleins­tes, Völ­ker­ge­schi­cke und Ju­gen­dese­lei­en, große Män­ner und klei­ne Mäd­chen bunt bei­sam­men fin­det. In mei­nem Ju­gend­gar­ten wuch­sen alle Ge­wäch­se Got­tes, große und klei­ne, ein­hei­mi­sche und frem­de, wild durch­ein­an­der. Da gab es him­mel­stre­ben­de Ze­dern, wun­der­sa­me Orchi­de­en, sel­te­ne Ro­sen­ar­ten, da­ne­ben lus­ti­ge Bau­ern­blu­men und al­ler­hand blü­hen­des Un­kraut. Ich pflücke mit vol­len Hän­den, was ich noch er­raf­fen kann. Frei­lich muss­te ich man­che lo­cken­de Blu­me nach­träg­lich wie­der aus dem Strauß wer­fen, weil mir die Rück­sicht auf Le­ben­de oder Ver­stor­be­ne Zu­rück­hal­tung auf­er­legt. Und was die großen Män­ner be­trifft, so neh­men sie die Nähe der klei­nen Mäd­chen nicht übel; ja sie hät­ten, als sie leb­ten, die Welt ohne die­se Nähe um vie­les we­ni­ger an­zie­hend ge­fun­den.

      Vi­el­leicht er­scheint es man­chem als eine Ver­mes­sen­heit, dass ich über­haupt in­mit­ten des Welt­krie­ges von den Freu­den und Lei­den mei­ner ei­ge­nen Ju­gend er­zäh­le. Zu mei­ner Recht­fer­ti­gung die­ne die Er­wä­gung, dass die große Sint­flut, aus der sich all­mäh­lich eine neue Welt em­por­zu­rin­gen be­ginnt, in Bäl­de vollends die letz­ten Spu­ren je­ner idyl­li­schen Tage mit ih­ren Rei­zen und ih­ren un­er­träg­li­chen Hem­mun­gen hin­weg­ge­fegt ha­ben wird. Dann mag ein neu­es Ge­schlecht sich durch die ver­schö­nern­de Zei­ten­fer­ne hin­durch viel­leicht an ih­rem An­blick be­ha­gen. Auch spie­geln sich ja in je­dem Men­schen­le­ben im­mer un­zäh­li­ge an­de­re, in de­nen die glei­chen An­sät­ze ent­hal­ten sind und die nicht un­gern im frem­den Ge­sicht das ei­ge­ne wie­der­er­ken­nen.

      Buoch i. R., im Som­mer 1918

       Isol­de Kurz

      1 Her­mann Kurz. Ein Bei­trag zu sei­ner Le­bens­ge­schich­te. Mün­chen 1906, bei Ge­org Mül­ler. Jetzt Stutt­gart, Deut­sche Ver­lags-An­stalt. <<<

      2 Flo­ren­ti­ni­sche Erin­ne­run­gen. Mün­chen 1910, bei Ge­org Mül­ler. 2. Aufl. Jetzt Stutt­gart, Deut­sche Ver­lags-An­stalt. <<<

      Es hat einen tie­fen Reiz für das geis­ti­ge Ich, sei­nen ei­ge­nen An­fän­gen nach­zu­spü­ren. Wann und wie ist von die­sem Be­wusst­sein, das spä­ter die gan­ze Welt des Sei­en­den, des Ge­we­se­nen und gar noch des Künf­ti­gen um­span­nen möch­te, der ers­te Fun­ke auf­ge­däm­mert? Die täg­li­che Um­ge­bung, in die wir hin­ein­ge­bo­ren wur­den, lässt kaum einen be­wuss­ten Ein­druck zu­rück, sie ist uns das Selbst­ver­ständ­li­che ge­we­sen, auch sind es nicht Per­so­nen, son­dern Din­ge, die uns zu­erst die Vor­stel­lung der Au­ßen­welt als mit uns im Ge­gen­satz be­find­lich ge­ben.

      Am An­fang mei­ner Erin­ne­run­gen steht ein Rad. Die­se frü­he­s­te Ge­dächt­niss­pur hat sich mir in mei­nem acht­zehn­ten Le­bens­mo­nat ein­ge­gra­ben. Es war ein mit grü­nem Schlamm be­han­ge­nes, ver­wit­ter­tes Mühl­rad, das sich in ei­nem ei­len­den Schwarz­wald­bach dreh­te. Ich hielt es für den großen Garn­has­pel un­se­rer Jo­se­phi­ne, wor­aus ich schlie­ßen muss, dass mir die­ser schon eine ganz ge­läu­fi­ge Vor­stel­lung war, aber wann ich sei­ner be­wusst wur­de, weiß ich nicht. Das Rad war also nicht das ers­te, ich müss­te viel­leicht sa­gen: im An­fang war der Has­pel; al­lein nun stut­ze ich wie der Dok­tor Faust bei der Bi­bel­über­set­zung: ich kann den Has­pel so hoch un­mög­lich schät­zen. Es müs­sen noch an­de­re Er­kennt­nis­se in Men­ge vor und mit dem Has­pel ge­we­sen sein, je­doch sie sind auf ewig un­ter die Schwel­le mei­nes Be­wusst­seins hin­ab­ge­taucht, und das Mühl­rad steht als ers­ter si­che­rer Mei­len­stein auf mei­ner Le­bens­stra­ße. Ich zap­pel­te also vom Arm des Kin­der­mäd­chens her­un­ter, um den ver­meint­li­chen Has­pel aus dem Was­ser zu lan­gen – die Grö­ßen­ver­hält­nis­se wa­ren mir noch nicht auf­ge­gan­gen – und ich setz­te durch die­se Ab­sicht das Mäd­chen in be­rech­tig­tes Er­stau­nen, denn sie trug mich schleu­nig hin­weg, wo­bei ich mei­ne Miss­bil­li­gung durch Schrei­en und Tre­ten aufs leb­haf­tes­te äu­ßer­te. Die­ses Mäd­chen hieß Jus­ti­ne, sie war bei der gleich­na­mi­gen Hel­din des Weih­nachts­fun­des, den mein Va­ter um jene Zeit schrieb, Pate ge­stan­den, und der Auf­tritt spiel­te auf ei­ner moos­be­wach­se­nen Stein­brücke in dem klei­nen Schwarz­wald­bad Lie­ben­zell, die ich bei ei­nem vor we­ni­gen Jah­ren dort ab­ge­stat­te­ten Be­such auf der Stel­le wie­der er­kann­te.

      Die­sel­be Jus­ti­ne, die, bei­läu­fig ge­sagt, erst vier­zehn Jah­re alt war, mir aber als eine sehr ehr­wür­di­ge Per­sön­lich­keit er­schi­en, trug mich ein­mal in eine Schmie­de, wo ru­ßi­ge Män­ner tief in­nen um lo­dern­des Feu­er han­tier­ten. Ich sah sie mit un­be­schreib­li­chem Ent­set­zen und hielt sie für Teu­fel. Wie aber kam der Teu­fel, von dem ich nie ge­hört hat­te, in mei­ne Vor­stel­lung? Ich weiß es nicht und kann nur an­neh­men, dass der Teu­fel zu den an­ge­bo­re­nen Be­grif­fen ge­hört. Ich schrie und sträub­te mich ge­wal­tig, als es in die­se Höl­le ging, und als gar ei­ner der Schwar­zen – es war, wie ich spä­ter er­fuhr, der Va­ter des Mäd­chens – sich mir ver­bind­lich nä­hern woll­te, ließ ich je­nes im gan­zen Ort be­kann­te Ge­schrei er­tö­nen, wor­an mich der Nacht­wäch­ter stra­ßen­weit zu er­ken­nen pfleg­te, dass das Mäd­chen ei­ligst mit mir das Wei­te such­te. Ich konn­te mich üb­ri­gens da­mals schon ganz gut ver­ständ­lich ma­chen, denn ich sprach, wie man mir er­zähl­te, schon im ers­ten Le­bens­jahr zu­sam­men­hän­gend. Mein um elf Mo­na­te äl­te­res, sonst sehr be­gab­tes Brü­der­chen Ed­gar lern­te es erst an mei­nem Bei­spiel. Aber wahr­schein­lich hät­te er es eben­so früh wie ich ge­konnt und ließ sich nur durch ir­gend­ein in­ne­res Hemm­nis die Zun­ge bin­den, denn er war ein wun­der­li­ches, äu­ßerst schwie­rig