Natürlich kann das Bild, das ich von meiner damaligen Umwelt gebe, kein vollständiges sein. Es haben wertvolle Menschen meinen Jugendweg gekreuzt, deren hier keine oder nur flüchtige Erwähnung geschieht, weil ich sonst von der vorgesetzten Richtung zu weit abgelenkt würde. Die Wahl der eingeführten Personen bestimmt sich einzig nach ihrem Einfluss auf meinen Werdegang. Und ein solcher Einfluss hängt ja weit weniger von der wirklichen Bedeutung einer Persönlichkeit ab als von dem Zeitpunkt, wo unsere Lebenswege sich schneiden.
Auch wundere man sich nicht, wenn man in meinen Erinnerungen Größtes und Kleinstes, Völkergeschicke und Jugendeseleien, große Männer und kleine Mädchen bunt beisammen findet. In meinem Jugendgarten wuchsen alle Gewächse Gottes, große und kleine, einheimische und fremde, wild durcheinander. Da gab es himmelstrebende Zedern, wundersame Orchideen, seltene Rosenarten, daneben lustige Bauernblumen und allerhand blühendes Unkraut. Ich pflücke mit vollen Händen, was ich noch erraffen kann. Freilich musste ich manche lockende Blume nachträglich wieder aus dem Strauß werfen, weil mir die Rücksicht auf Lebende oder Verstorbene Zurückhaltung auferlegt. Und was die großen Männer betrifft, so nehmen sie die Nähe der kleinen Mädchen nicht übel; ja sie hätten, als sie lebten, die Welt ohne diese Nähe um vieles weniger anziehend gefunden.
Vielleicht erscheint es manchem als eine Vermessenheit, dass ich überhaupt inmitten des Weltkrieges von den Freuden und Leiden meiner eigenen Jugend erzähle. Zu meiner Rechtfertigung diene die Erwägung, dass die große Sintflut, aus der sich allmählich eine neue Welt emporzuringen beginnt, in Bälde vollends die letzten Spuren jener idyllischen Tage mit ihren Reizen und ihren unerträglichen Hemmungen hinweggefegt haben wird. Dann mag ein neues Geschlecht sich durch die verschönernde Zeitenferne hindurch vielleicht an ihrem Anblick behagen. Auch spiegeln sich ja in jedem Menschenleben immer unzählige andere, in denen die gleichen Ansätze enthalten sind und die nicht ungern im fremden Gesicht das eigene wiedererkennen.
Buoch i. R., im Sommer 1918
Isolde Kurz
1 Hermann Kurz. Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte. München 1906, bei Georg Müller. Jetzt Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt. <<<
2 Florentinische Erinnerungen. München 1910, bei Georg Müller. 2. Aufl. Jetzt Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt. <<<
Lebensmorgen
Es hat einen tiefen Reiz für das geistige Ich, seinen eigenen Anfängen nachzuspüren. Wann und wie ist von diesem Bewusstsein, das später die ganze Welt des Seienden, des Gewesenen und gar noch des Künftigen umspannen möchte, der erste Funke aufgedämmert? Die tägliche Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, lässt kaum einen bewussten Eindruck zurück, sie ist uns das Selbstverständliche gewesen, auch sind es nicht Personen, sondern Dinge, die uns zuerst die Vorstellung der Außenwelt als mit uns im Gegensatz befindlich geben.
Am Anfang meiner Erinnerungen steht ein Rad. Diese früheste Gedächtnisspur hat sich mir in meinem achtzehnten Lebensmonat eingegraben. Es war ein mit grünem Schlamm behangenes, verwittertes Mühlrad, das sich in einem eilenden Schwarzwaldbach drehte. Ich hielt es für den großen Garnhaspel unserer Josephine, woraus ich schließen muss, dass mir dieser schon eine ganz geläufige Vorstellung war, aber wann ich seiner bewusst wurde, weiß ich nicht. Das Rad war also nicht das erste, ich müsste vielleicht sagen: im Anfang war der Haspel; allein nun stutze ich wie der Doktor Faust bei der Bibelübersetzung: ich kann den Haspel so hoch unmöglich schätzen. Es müssen noch andere Erkenntnisse in Menge vor und mit dem Haspel gewesen sein, jedoch sie sind auf ewig unter die Schwelle meines Bewusstseins hinabgetaucht, und das Mühlrad steht als erster sicherer Meilenstein auf meiner Lebensstraße. Ich zappelte also vom Arm des Kindermädchens herunter, um den vermeintlichen Haspel aus dem Wasser zu langen – die Größenverhältnisse waren mir noch nicht aufgegangen – und ich setzte durch diese Absicht das Mädchen in berechtigtes Erstaunen, denn sie trug mich schleunig hinweg, wobei ich meine Missbilligung durch Schreien und Treten aufs lebhafteste äußerte. Dieses Mädchen hieß Justine, sie war bei der gleichnamigen Heldin des Weihnachtsfundes, den mein Vater um jene Zeit schrieb, Pate gestanden, und der Auftritt spielte auf einer moosbewachsenen Steinbrücke in dem kleinen Schwarzwaldbad Liebenzell, die ich bei einem vor wenigen Jahren dort abgestatteten Besuch auf der Stelle wieder erkannte.
Dieselbe Justine, die, beiläufig gesagt, erst vierzehn Jahre alt war, mir aber als eine sehr ehrwürdige Persönlichkeit erschien, trug mich einmal in eine Schmiede, wo rußige Männer tief innen um loderndes Feuer hantierten. Ich sah sie mit unbeschreiblichem Entsetzen und hielt sie für Teufel. Wie aber kam der Teufel, von dem ich nie gehört hatte, in meine Vorstellung? Ich weiß es nicht und kann nur annehmen, dass der Teufel zu den angeborenen Begriffen gehört. Ich schrie und sträubte mich gewaltig, als es in diese Hölle ging, und als gar einer der Schwarzen – es war, wie ich später erfuhr, der Vater des Mädchens – sich mir verbindlich nähern wollte, ließ ich jenes im ganzen Ort bekannte Geschrei ertönen, woran mich der Nachtwächter straßenweit zu erkennen pflegte, dass das Mädchen eiligst mit mir das Weite suchte. Ich konnte mich übrigens damals schon ganz gut verständlich machen, denn ich sprach, wie man mir erzählte, schon im ersten Lebensjahr zusammenhängend. Mein um elf Monate älteres, sonst sehr begabtes Brüderchen Edgar lernte es erst an meinem Beispiel. Aber wahrscheinlich hätte er es ebenso früh wie ich gekonnt und ließ sich nur durch irgendein inneres Hemmnis die Zunge binden, denn er war ein wunderliches, äußerst schwierig