Dies war unser ständiger Menschenkreis in der Via delle Porte nuove. Späterhin trat noch ein anderer Norditaliener, Freund Carlo Fasola, der Professor für deutsche Sprache und Literatur an der florentinischen Hochschule, mit seiner strebsamen, aus München geholten Gattin hinzu. Mir als Sprachforscher ein besonders willkommener Zuwachs, weil er einen Bereich mit mir gemein hatte, auf den seit den Tübinger Tagen meines Ernst Mohl niemand mehr eingegangen war. Aber glücklicherweise war auch er kein Buchgelehrter, sondern ein großer Naturfreund, er brauchte die Nähe der Scholle und den Umgang mit Tieren um sich wohl zu fühlen und lebte darum immer außerhalb der Stadt. Wenn er auf seinem lustigen Eselswägelchen angefahren kam, so brachte er in seiner großen Ursprünglichkeit und studentischen Unbekümmertheit eine Welle von Landluft mit, die erquickend war.
Mit dem Frühjahrsstrom kamen dann die alten Freunde aus der Heimat: Paul Heyse mit Frau, die Familie von Hornstein, mir von München her befreundet, und andere Spitzen; ferner Edgars in Rom lebende Freunde, der treffliche Dr. von Fleischl und der ritterliche Maler und Marées-Schüler Karl von Pidoll, der später auf tragische Weise aus dem Leben schied. Von Frauen sei besonders zweier gleichfalls aus Rom durchreisender Meteore gedacht: der als Schriftstellerin, aber noch mehr als Freundin großer Männer bekannten Malwida von Meysenbug2 und der geistreichen, erst im Frühjahr 1932 hochbetagt in München gestorbenen Auguste von Eichtal, beides Damen, denen eine kulturelle Bedeutung zukam, weil sie, eine jede auf ihre Weise, die Geistesgrößen aus Politik, Literatur und Wissenschaft in ihrem römischen Heim um sich zu sammeln wussten. Auch Gisela Grimm, die Tochter der Bettina und Gattin Hermann Grimms, steigt aus jenen Tagen in meinem Gedächtnis auf, eine schöne, stattliche, schon ältere Frau, ihrer Mutter in dauernder Hochspannung und mancher äußeren Eigentümlichkeit nachstrebend. Mit ganz verblassenden Erinnerungsfarben kann ich auch noch die Erscheinung des Grafen Schack erkennen, des berühmten Übersetzers, Sammlers, Reisenden und Mäzens. Was strömte nicht alles damals in Florenz zusammen. Im Hause des jungen Doktors, der neben seinen vorzüglichen Leistungen auch durch seine tiefe Menschlichkeit und durch den Dichter in ihm so viel Vertrauen erweckte, dass er ebenso als Beichtvater wie als Arzt gesucht war, wurde man mit den mannigfachsten menschlichen Schicksalen bekannt. Stoff zu Tragödien wie zu Komödien, Stoff zu Romanen: bald eine Künstlerlaufbahn, die an einer verrückten Liebschaft scheitert, bald eine unglückliche Frau, die vor ihrem wildgewordenen Ehemann flüchtet, oder ein heimlich zur Welt gekommenes Kind, das untergebracht werden muss, bis seine Eltern sich vor dem Standesamt zu ihm bekennen dürfen, –und was alles die Fantasie der verborgenen Schicksalsweberinnen sich an Lebens- und Liebesverrenkungen auszudenken vermag. Edgar war der verschlossenste Mensch und erzählte nie aus seiner Sprechstunde, aber die Verstürmten fanden von selbst den Weg an das große Herz der Mutter, und ihres war auch das meinige. Da sah ich in Wirrungen hinein, von denen ich mir nie hätte träumen lassen, und wurde frühe so mit seelischen Merkwürdigkeiten übersättigt, dass ich manchesmal bei Fällen, worüber sich die öffentliche Meinung aufregte, mir meinen Mangel an psychologischer Neugier vorwerfen lassen musste, denn es war »alles schon dagewesen«.
Anderseits strahlte aus den beruflichen Kämpfen Edgars, der immerzu mit der Eifersucht anderer Fremdenärzte und mit dem damaligen medizinischen Schlendrian der Einheimischen zu ringen hatte, auch so viel Unruhe in das persönliche Leben herüber, dass man mitunter freundschaftliche Beziehungen plötzlich zerstört sah, ohne zu wissen, warum. Dies trug auch stets aufs neue dazu bei, mich vom geselligen Verkehr abzuschneiden, aber ich hatte meine Arbeit, und mitten unter den Gestalten meiner Einbildungskraft berührten mich die Verluste weniger.
Aber was hilft es, die Blätter der Erinnerung umschlagen, um die Spuren des eigenen Lebens darin zu finden! Unsere wahre Geschichte steht nicht auf diesen Blättern. Vielleicht lebt kein tieferer Mensch seine wahre Geschichte. Die äußeren Vorgänge sind es ja nicht, sie werfen höchstens ihre Schatten herein. Unser wahres Leben geht im Unausgesprochenen und Unaussprechbaren, von uns selber nicht Gewussten vor. Wie wahr sagt Rilke: »Mit kleinen Schritten gehn die Uhren / Neben unsrem eigentlichen Tag.« Wo scheint unser eigentlicher Tag? In der inneren Heimat oder nirgends. Wie der wachsende Menschenkeim in dem umhüllenden mütterlichen Fruchtwasser, so wohnt und reift unsere Seele in einem von oben mitgebrachten Element, das sie schützend und absondernd umgibt. Woraus es besteht, ist uns selber nicht bekannt. Es wirkt nur als Gewähr einer höheren Verwandtschaft und als tröstliches Gefühl ihrer Nähe. Aber die äußere Entsprechung dafür wäre mehr, als der Mensch an Glück ertrüge, darum müssen den Tiefsten ihre irdischen Freuden immer aufs neue genommen werden.
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Ich verbrachte immer noch meine Tage auf der Biblioteca nationale, wälzte Folianten und häufte Auszüge auf Auszüge. Denn je weiter ich kam, desto mehr begriff ich, dass genug noch nicht genug war, und dass man ein Menschenleben über diesen Studien verbringen konnte. Die Bibliothekare gingen mir freundlich zur Hand, wenn sie mich so unentwegt meinen Platz am Damentisch einnehmen sahen, wo sonst nur ab und zu ein junges Mädchen auftauchte, schnell einen heimlichen Brief hinkritzelte und wieder verschwand. Pasquale Villari, der angesehene Historiker, dem ich zuweilen im Haus Guerrieri begegnet war, las in der Sapienza öffentlich über diese Gegenstände, und ich schrieb gewissenhaft nach, hatte aber nicht viel Gewinn davon, denn was er las, war mir sachlich schon bekannt, zum Teil aus seinen eigenen Werken, und mit seinen etwas bürgerlich-moralischen Maßstäben befand ich mich nicht in Übereinstimmung: die überschauende Größe Burckhardts ließ mich das Außerordentliche jener Zeiten und Menschen doch in anderem Lichte sehen. So fühlte ich mich mit meinem Text nur langsam vorwärts. Ich war meinem abwesenden Mitarbeiter dankbar, dass er mich nicht drängte. In dem Sommer, der auf unseren Hauskauf folgte, kam er nicht nach Florenz; seine Briefe enthielten wieder viel Missmut und Weltverneinung unter dunklen Andeutungen, die man auf schlechten Gesundheitszustand beziehen musste. Aber gemeinsame Bekannte wollten ihn in guter Verfassung