Bis zu Freuds erzwungener Emigration nach London im Jahr 1938 war Wien das geistige Zentrum der Psychoanalyse. Aus der ganzen Welt kamen Heilung Suchende zu Freud, wobei seine Erfolgsquote aufgrund der langen zeitlichen Dauer der Analyse jedoch nicht besonders hoch war. 1938 wurde die Psychoanalyse gewaltsam aus Wien verbannt. Bereits 1933 waren Freuds Werke bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten der Bücherverbrennung zum Opfer gefallen. Freud erkannte nur allzu deutlich, welche gefährliche politische Entwicklung Deutschland nahm, konnte sich aber lange nicht zur Emigration entscheiden. Ins Londoner Exil ging er, um »in Freiheit zu sterben«. Seine Krebserkrankung war bereits sehr weit fortgeschritten, so dass ihm nur noch wenige Monate Lebenszeit blieben. Kurz vor seinem Tod gab ihm sein langjähriger Arzt Dr. Max Schur, der ihm ins Exil gefolgt war, auf eigenen Wunsch schmerzlindernde Morphiumspritzen, in deren Folge er ins Koma fiel und nicht mehr erwachte.
Mittlerweile ist Freuds Lehre in vielerlei Hinsicht überholt. Der Analytiker vertrat Ansichten, die heute z.T. äußerst fragwürdig sind, wie etwa die, dass man Homosexualität heilen müsse. Andererseits prägte er mit Begriffen wie Verdrängung, Fehlleistung oder Ödipuskomplex eine Terminologie, die aus unserem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken ist. Seine Leistung bestand darin, dass er eine Sprache für die inneren Vorgänge des Individuums fand, die der Wiener Analytiker Richard Picker als eine »Art Psychosprache« bezeichnet. Freuds kulturtheoretische Ansätze sind hingegen nach wie vor höchst angesehen.
Anna Freud wurde als sechstes Kind von Sigmund und Martha Freud in Wien geboren. Sie war ihr Leben lang die Lieblingstochter und Vertraute des Vaters. Nach Besuch des Cottage Lyceums begann sie eine Ausbildung als Volksschullehrerin, die sie 1914 mit dem ersten Staatsexamen abschloss. Ihr Vater schenkte ihr im Sommer 1914 eine Englandreise, von der sie nach Ausbruch des Krieges nur dank der Intervention von Freunden nach Österreich zurückkehren konnte. Nach Ablegung des zweiten Staatsexamens im Jahr 1916 unterrichtete sie zwischen 1917 und 1920 an ihrer alten Schule. Neben ihrer Lehrerausbildung absolvierte sie eine informelle Ausbildung als Psychoanalytikerin, indem sie die Vorlesungen ihres Vaters an der Wiener Universität besuchte und von Anfang an seine fachliche Vertraute war. Auch ihre Lehranalyse absolvierte sie von 1918 bis 1921 beim Vater, was bei dem engen verwandtschaftlichen Verhältnis nicht ohne Probleme und Folgen war und vor allem von Außenstehenden kritisiert wurde. Möglicherweise resultierte gerade aus dieser Lehranalyse ihr sehr enges Verhältnis zum Vater.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren die fünf anderen Geschwister alle aus dem Haus, so dass Anna die einzige intellektuelle Bezugsperson für den Vater wurde. Mit der Mutter hielt sie den Freudschen Haushalt aufrecht und sorgte dafür, dass ihr Vater sich ganz seiner Arbeit widmen konnte.
Im Juni 1922 nahm Freud sie in die Psychoanalytische Vereinigung auf; sie hielt bei dieser Gelegenheit einen viel beachteten Vortrag mit dem Titel Schlagphantasien und Tagtraum. Ein Jahr später eröffnete sie ihre eigene Praxis in der Berggasse 19, wo sie vorwiegend Kinder analysierte und therapierte. Ab 1918 nahm sie auch regelmäßig an den jeweils mittwochs stattfindenden Diskussionsrunden ihres Vaters teil. Wenn Sigmund Freud zu Kongressen reiste, befand sie sich immer in seiner Begleitung.
1925 begegnete sie Dorothy Tiffany Burlingham, die aus der amerikanischen Tiffany-Glas- und Schmuckdynastie stammte. Sie war mit ihren vier Kindern nach Wien in die Praxis von Sigmund Freud gekommen. Dorothy Burlingham war fünf Jahre älter als Anna und seit 1911 verheiratet, lebte jedoch bereits seit Jahren von ihrem Mann getrennt. In ihr fand Anna ihre Lebenspartnerin. Burlingham begann ebenfalls eine Ausbildung als Psychoanalytikerin. Sie und Anna Freud gestalteten ihr Leben gemeinsam, zogen Dorothys Kinder auf und erwarben 1932 als Wochenend- und Sommerhaus ein Bauernhaus in Hochrotherd.
Über den Vater lernte Anna 1921 die um mehr als 30 Jahre ältere Lou Andreas-Salomé kennen, die als Muse berühmter Männer wie Rainer Maria Rilke und Friedrich Nietzsche bereits internationale Bekanntheit genoss. Die Begegnung mit der intellektuell anregenden Lou, die ebenfalls eine analytische Ausbildung hatte, war für Anna prägend. Sigmund Freud bezeichnete Lou Andreas-Salomé als ein Frauenzimmer von gefährlicher Intelligenz.
Bei den Mittwochgesellschaften ihres Vaters traf Anna Freud Muriel Gardiner, Erbin eines Chicagoer Fleischimperiums. Gardiner, die eng mit der Society of Friends verbunden war, verbrachte einige Jahre in Wien. So lange sie konnte, versuchte sie Freunden zu helfen Sie war auch an der Verschickung von Freuds Antiquitätensammlung beteiligt.
Bereits die Berufswahl von Anna Freud verdeutlichte, auf welches tiefenpsychologische Gebiet sich ihre fachlichen Interessen richten würden: die psychische, physische und geistige Entwicklung des Kindes. Stets hatte sie Kinder beobachtet, ihre individuelle Entwicklung verfolgt und vor allem der Kindlichkeit und den verschiedenen Formen ihrer Äußerungen verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Erziehung war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Gegenbild der Erziehungsmethoden des 19. Jahrhundert geprägt, denen man unterstellte, dass sie die kindliche Unschuld durch von außen aufoktroyierte Zwänge zerstört hätten. Die Psychoanalyse wies hier einen anderen, differenzierteren Weg, indem sie von der empirisch bewiesenen Erkenntnis ausging, dass alle Versuche des Kindes, die Erwachsenenwelt kennen zu lernen, ihrerseits einen rücksichtslosen und grausamen Akt darstellten. Aus diesen Erfahrungen bildeten sich zwei Schulen: diejenige von Anna Freud und eine weitere unter der Anhängerschaft von Melanie Klein, mit der Anna in erstaunlicher Direktheit einen Grundsatzstreit austrug. Sie war der Auffassung, dass Melanie Kleins Deutungen das Kind zu sehr überforderten und wollte daher nur neurotisch gestörte Kinder therapieren, während Melanie Klein der Ansicht war, dass jedes Kind einer psychoanalytischen Therapie bedürfe.
Anna Freuds kinderpsychologische Ansätze standen auch im Gegensatz zur Theorie von Alfred Adler (→ siehe dort), der als Individualpsychologe die soziale Komponente in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen betonte. 1927 veröffentlichte Anna Freud ihre erste große Arbeit, die Einführung in die Technik der Kinderanalyse. Im Auftrag des Jugendamtes der Stadt Wien verfasste sie 1930 eine Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen.
Als die Ärzte Sigmund Freud 1923 Kieferkrebs diagnostizierten, wurde Anna Freud für den Vater unentbehrlich: sie arbeitete für ihn als Sekretärin, als Vertraute und als Pflegerin. Da er bereits Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte und keine Reisen mehr unternehmen wollte, erledigte sie alles für ihn. So verlas sie beim Psychoanalytischen Kongress in Homburg im Jahr 1925 Freuds Beitrag Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds. 1930 nahm sie für den Vater den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt entgegen. Anna Freud bezog Stärke aus der zunehmenden Hinfälligkeit des Vaters und ihre Auftritte in der Öffentlichkeit wurden immer souveräner.
Die politische Entwicklung in Österreich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland erfüllte die Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigung und sowohl Vater als auch Tochter Freud mit Sorge. Deutlich war spürbar, dass nicht nur die persönliche Lebenssituation des Einzelnen einer stetig zunehmenden Bedrohung unterlag, sondern auch die psychoanalytische Theorie immer mehr von der Politik bedroht erschien. Die letzte Sitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung fand am 13. März 1938 statt. Bei dieser Sitzung wurde beschlossen, dass angesichts der Erfahrung in Deutschland, jeder, dem es nur irgend möglich war, aus Österreich fliehen sollte. Zahlreiche ausländische Kollegen wie der Amerikaner Walter C. Langer oder die französische Prinzessin Marie Bonaparte bemühten sich, Sigmund Freud aus Österreich herauszuhelfen bzw. ein britisches Visum zu erhalten.
Unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs wurde Anna Freud zur Gestapo zitiert und konnte sie erst Stunden später verlassen. Was dort tatsächlich passierte, bleibt ungeklärt. Der Hausarzt der Familie, der um die Bedrohung der Freuds wusste, hatte Anna für den Fall, dass sie bei der Gestapo gefoltert werden sollte, Veronal gegeben. Anfang Juni 1938 konnten Sigmund Freund, seine Frau, Anna Freud und auch Dr. Schur, der Arzt der Familie, Österreich schließlich verlassen. Auch Dorothy Burlingham wählte das britische Exil. Die Exilanten reisten über