„Was ist denn los?“ fragte der Premierminister. „Ist was passiert?“
Captain Petlos sprang aus der Kutsche.
„Ein Kind ist angefahren worden, Exzellenz“, rief er nach einem Moment. „Ein kleines Mädchen. Es muß direkt in die Räder hineingelaufen sein.“
„Ein Kind?“ rief Theola.
Ohne eine Sekunde zu überlegen, stieg sie aus der Kutsche. Neben dem rechten Vorderrad lag ein Mädchen von vielleicht vier Jahren. Die kleinen Beinchen waren voll Blut.
Theola kniete sich neben dem Kind auf den Boden. Es war besinnungslos und schien kaum zu atmen. Im linken Oberschenkel klaffte eine tiefe Wunde.
Theola legte den Kopf des Kindes in ihren Schoß.
„Ihr Taschentuch, bitte“, sagte sie zu Captain Petlos, der neben ihr stand.
Der junge Offizier kramte in den Taschen. Da er offensichtlich kein Taschentuch bei sich zu haben schien, zog sich Theola kurz entschlossen den Seidenschal vom Hals und band damit dem kleinen Mädchen das Bein ab.
„Das Kind muß sofort in ein Krankenhaus gebracht werden“, sagte sie. „Es muß ärztliche Hilfe bekommen. Ist die Mutter in der Nähe?“
Theola sah hoch und mußte zu ihrem Erstaunen feststellen, daß niemand mehr da war. Die Kinder waren weggelaufen.
„Was ist denn los?“ rief der Premierminister aus der Kutsche. „Wir können hier nicht stehenbleiben, Captain Petlos.“
„Das Kind ist verletzt, Exzellenz.“
„Dann sollen sich die Eltern darum kümmern.“
„Es ist niemand da, Sir.“
„Legen Sie das Kind an den Straßenrand. Wir müssen weiter.“
„Das können wir doch nicht machen“, sagte Theola zu Captain Petlos. „Ich habe das Bein zwar abgebunden, aber das Kind muß schnellstens von einem Arzt behandelt werden. Versuchen Sie doch die Eltern zu finden. Oder wenigstens jemand, der sich um das Kind kümmert. Schauen Sie sich die Wunde an! Das Kind muß ins Krankenhaus!“
„Es gibt kein Krankenhaus“, entgegnete Captain Petlos leise.
„Hallo!“ rief der junge Offizier in dem Moment laut. „Jemand wird doch noch so viel Anstand haben und sich um das Kind kümmern!“
Es dauerte eine ganze Weile, bis schließlich eine Tür aufging und ein Mann auf sie zukam.
„Das muß der Vater sein“, meinte Theola erleichtert. „Bitte, erklären Sie ihm - ich weiß ja nicht, ob er mich versteht - daß die Binde in zehn Minuten abgenommen werden muß, sonst verliert das Kind das Bein. Der Mann muß es schnellstens zu einem Arzt bringen.“
Dann war der Mann bei ihnen.
Und nun traute Theola ihren Ohren nicht.
„Bist du wahnsinnig?“ flüsterte der Captain dem Mann zu. „Wenn sie dich erkennen, knallen sie dich ab.“
„Das weiß ich“, entgegnete der Mann leise.
„Mann Gottes!“ stöhnte Captain Petlos. Aus seiner Stimme schwang Angst.
„Ihr Kind ist leider verletzt worden“, setzte er laut hinzu. „Die Dame hier läßt Ihnen ausrichten, daß es sofort zu einem Arzt gebracht und die Binde innerhalb von zehn Minuten abgenommen werden muß.“
Der Mann bückte sich und nahm das Kind in die Arme. Jetzt sah Theola zum ersten Mal sein Gesicht. Sie zweifelte keinen Moment daran, daß er griechischer Abstammung war? Doch nach den Bildern, die ihr ihr Vater gezeigt hatte, waren Theola diese Züge so vertraut, daß sie das Gefühl hatte, den Mann schon seit langem zu kennen.
Und als sich ihre Blicke trafen, schrak sie zusammen. Noch nie hatte sie in den Augen eines Menschen so viel Verachtung gesehen.
„Wer ist dieser Mann?“ fragte der Premierminister scharf.
„Ich nehme an, der Vater des Kindes, Exzellenz“, antwortete Captain Petlos.
Der Mann, der jetzt das kleine Mädchen in den Armen hielt und sich aufgerichtet hatte, wandte sich an Theola.
„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte er ruhig. „Dürfte ich Sie noch um einen Gefallen bitten?“
„Nämlich?“ fragte Theola.
„Würden Sie mir helfen, das Kind vorsichtig ins Haus zu tragen? Wenn Sie nur die Beine stützen, dann sind die Schmerzen nicht so groß.“
Die Begründung kam Theola reichlich gesucht vor, sie hätte es jedoch nicht übers Herz gebracht, die Bitte abzulehnen. So trug sie das Kind mit dem Mann zusammen zu einem Haus, dessen Tür wie von selbst auf ging.
Und genau in dem Moment wurde Theola klar, daß sie auf dem kurzen Weg zu dem Haus als Deckung für den Mann gedient hatte.
Sie gingen in das Haus. Ein einfacher Raum, in dem kaum Möbel standen. An einer Wand lehnte ein Mann. Auf einem Stuhl saß eine Frau, der die Tränen über das Gesicht liefen. Sie mußte die Mutter des Kindes sein.
Die Frau sprang auf und kam mit ausgestreckten Armen auf Theola und den Mann zu.
„Das ist Alexius Vasilas!“ hörte Theola in dem Moment den Premierminister rufen. „Erschießt ihn! Schießen, sage ich!“
Der Mann legte der Mutter das Kind in die Arme und verschwand wortlos durch die rückwärtige Tür.
Sie hatte sich gerade hinter ihm geschlossen, als Captain Petlos, die Pistole in der Hand und von vier Soldaten gefolgt, auf das Haus zukam. Warum Theola es tat, wußte sie nicht, aber sie stellte sich absichtlich vor die Tür, durch die der Mann verschwunden war.
„Was ist denn los?“ fragte sie.
„Geben Sie den Weg frei, Miss Waring“, sagte Captain Petlos. „Ich habe meine Befehle.“
„Was für Befehle?“ fragte Theola.
„Der Mann, der das Kind ins Haus getragen hat, muß festgenommen werden.“
„Der Premierminister hat aber gesagt, daß er erschossen werden soll.“
„Ich muß ihn erst einmal finden, Miss Waring.“
„Er holt bestimmt einen Arzt“, meinte Theola. „Ihn daran zu hindern wäre eine Todsünde. Es kann dem Kind das Leben kosten.“
„Ich muß meine Pflicht tun, Miss Waring.“
Theola rührte sich nicht von der Stelle.
Die vier Soldaten, die dem Captain gefolgt waren, hämmerten an die Türen der Nebenhäuser.
„Zurück!“ rief in dem Moment der Premierminister. „Zurückkommen!“
„Wir müssen weiter!“ drängte einer der Offiziere, die zum Begleitschutz gehörten. „Diese Gegend ist zu unsicher.“
„Dann fahren wir doch endlich weiter!“ schrie der Premier. „Dieser Vasilas ist uns wieder einmal entkommen. Warum hat man mich nicht informiert, daß er in der Stadt ist?“
Niemand antwortete auf die Frage, und Theola wußte, daß die Gefahr vorüber war. Sie streifte das perlenbestickte Beutelchen ab, das sie am Handgelenk trug, nahm eine Goldmünze heraus und legte sie auf den Stuhl neben der Tür.
„Für das Kind“, sagte sie nur und folgte Captain Petlos zur Kutsche.
„Also alles was recht ist!“ schimpfte Catherine, als Theola einstieg. „Wie kannst du dich so lachhaft benehmen. Dein Kleid ist ruiniert.“
„Verzeih, Catherine“, antwortete Theola. „Es tut mir leid, daß ich alle aufgehalten habe.“
„Wenn Papa von deinem Benehmen hört, wird er entsetzt sein“, entgegnete die Cousine mit einem drohenden Unterton