Sie hatte versucht, sich mit ihrer Cousine Catherine zu befreunden, hatte aber feststellen müssen, daß das nicht möglich war. Catherine hatte die Unnahbarkeit ihres Vaters geerbt und interessierte sich genau wie ihre Mutter nur für die eigene Person. Sie sah in Theola einen Dienstboten, der nach ihrer Pfeife zu tanzen hatte und hielt das junge Mädchen von früh bis spät auf Trab.
Theola wusch und bügelte Catherines Kleider und mußte sich pausenlos die Lobhudeleien der Cousine über die eigene Person anhören.
„Ich denke oft, daß ich griechische Züge habe“, hatte Catherine einmal gesagt. „Ich sehe den viel bewunderten Plastiken der griechischen Götter ähnlich.“
Theola hatte sich nur mit Mühe eine Entgegnung verkneifen können. Catherine hatte mit dem besten Willen keine griechischen Züge. Sie war blond und hatte blaue Augen, und es hieß, sie sei hübsch, aber in dem Ruf stand sie, weil sie zur Gesellschaft gehörte, elegant gekleidet war und mit arrogantem Stolz auftrat.
Theola wußte mehr über Griechenland als sonst über ein Land dieser Erde. Ihr Vater war ein fanatischer Verehrer des klassischen Altertums gewesen und hatte Theola von klein auf mit den Sagen und der hochstehenden Zivilisation der Griechen vertraut gemacht. Auch hatte er schon früh damit angefangen, ihr Sprachunterricht in Französisch, Deutsch, Latein und Griechisch zu geben, und Theola las mühelos die Klassiker der jeweiligen Länder.
Daß eine so hochgestellte Persönlichkeit wie der Herzog von Wellesbourne noch nie in seinem Leben ein Buch gelesen hatte, war und blieb ihr unbegreiflich.
Manchmal, wenn sie am Abend todmüde und mit schmerzenden Gliedern ins Bett fiel, sehnte sie sich danach, einmal wieder mit einem Menschen wirklich reden zu können. Der geistige Austausch in einem Gespräch fehlte ihr so sehr, daß sie Angst hatte, ihr Geist und ihre Seele könnten verkümmern.
Und Zeit zum Lesen fand sie kaum. Dazu kam, daß in den Schlafgemächern des Schlosses kein elektrisches Licht war. Man behalf sich mit Kerzen, und bei Theola und dem Personal wurde sogar an diesen gespart. Am Abend zu lesen, war also unmöglich, und während des Tages hatte Theola keine Zeit.
Und, oh Wunder, nach einem Jahr voll Trübsal und Stumpfheit, war sie jetzt hier in Kawonien!
Mit Hilfe ihrer Holtz-Meldersteinschen Verwandtschaft hatte die Herzogin die Heirat ihrer Tochter Catherine mit einem Cousin, dem König Ferdinand von Kawonien, arrangiert.
Dem Muster Griechenlands folgend, das ein Mitglied eines ausländischen Königshauses zum Regenten gemacht hatte, hatte Kawonien Ferdinand auf den Thron gesetzt. Die ursprüngliche Idee, sich den König aus Skandinavien zu holen, hatte sich nicht verwirklichen lassen, daher hatte man sich für Ferdinand, einen Verwandten Kaiser Franz Josephs, entschieden.
In England hatte man wenig über ihn in Erfahrung bringen können. Man wußte lediglich, daß er fünfunddreißig und schon einmal verheiratet gewesen war. Seine Frau war vor zwei Jahren gestorben und hatte ihm keinen Erben hinterlassen.
Daß die Herzogin die Tochter nicht hatte begleiten können, war bitter für sie gewesen. Ihre Ärzte hatten ihr dringendst davon abgeraten, eine so lange und anstrengende Reise zu machen.
Die Herzogin hatte seit Jahren mit dem Herzen zu tun, und ihr Mann hatte nach einigem Hin und Her strikt erklärt, daß sie kein Risiko eingehen dürfe und in England bleiben müsse.
Nachdem sie den Kanal überquert hatten und in Calais an Land gegangen waren, hatten sie die Reise durch Frankreich in einem luxuriösen Zugabteil fortgesetzt. In ihrer Begleitung waren der Kurier des Königs von Kawonien, der Sekretär des Herzogs, sein Kammerdiener und eine Zofe für Catherine.
Die Zofe war, kaum in Marseille angekommen, nach England zurückgeschickt worden, denn sie hatte sich während der ganzen Reise durch Frankreich nicht von der Übelkeit erholt, die sie auf der Fähre über den Ärmelkanal befallen hatte.
Und so war Theola allein mit Catherine an Bord des Schiffes gegangen, das König Ferdinand geschickt hatte. Das Mittelmeer war ruhig gewesen, bis sie den Südzipfel Italiens umfahren hatten. Dann waren sie in einen Sturm hineingekommen, und Catherine hatte die Kabine nicht mehr verlassen. Stöhnend und jammernd war sie im Bett gelegen und hatte Theola und zwei Stewardessen den ganzen Tag springen lassen. Zum Glück war ein Arzt an Bord gewesen, der ihr schließlich ein Beruhigungsmittel gegeben hatte, das Catherine über Stunden in tiefen Schlaf versetzt und damit Theola Zeit für sich selbst gegeben hatte.
An Bord war eine Anzahl Würdenträger des Landes gewesen, die den König zu vertreten hatten. Da sie samt und sonders fanatische Kartenspieler waren, verstand sich der Herzog prächtig mit ihnen. Die Herren hatten ihre Zeit im Rauchsalon verbracht, während Theola bald jemand gefunden hatte, der gewillt gewesen war, ihr Kawonisch beizubringen.
Es war der Adjutant des Feldmarschalls, also des Mannes, der für die Eskorte verantwortlich gewesen war. Der junge Offizier hätte sich an Bord vielleicht gelangweilt, hätte ihn Theola nicht auf ihre bescheidene Weise gebeten, ihr die Grundbegriffe seiner Sprache zu erklären.
„Und wie kommt es, daß Sie Kawonisch lernen wollen?“ hatte der Adjutant gefragt.
„Ich freue mich sehr, Ihr Land kennenlernen zu dürfen, Captain Petlos“, hatte Theola geantwortet.
„Hoffentlich werden Ihre Erwartungen nicht enttäuscht, Miss Waring“, hatte der junge Offizier geantwortet.
„Ganz sicherlich nicht. Ich werde alles noch mehr genießen können, wenn ich mich mit den Menschen unterhalten und sie verstehen kann.“
Captain Nicias Petlos hatte sich zwar nichts anmerken lassen, aber Theola hatte gespürt, mit welcher Skepsis er an die erste Unterrichtsstunde herangegangen war. Nach der zweiten Stunde war jedoch jede Skepsis verflogen und hatte heller Begeisterung Platz gemacht.
„Unglaublich!“ hatte Captain Petlos gesagt. „Ich hätte nie gedacht, daß jemand so schnell Kawonisch lernen kann.“
Theola hatte gelächelt.
„Es ist für mich eine große Hilfe, daß so viele Worte griechischen Ursprungs sind.“
„Ja, unsere Sprache ist eine Mischung aus Griechisch und Albanisch, wobei Griechisch überwiegt.“
Als sie auf der Höhe von Sizilien gewesen waren, hatte sich Theola bereits recht geschickt ausdrücken können und - was noch wichtiger war - sie hatte fast alles verstanden, was Captain Petlos in seiner Muttersprache zu ihr gesagt hatte.
„Sie sind ein Phänomen!“ hatte der junge Offizier an dem Tag ausgerufen. „Wenn doch bloß -.“
Er hatte mitten im Satz abgebrochen.
„Was wollten Sie gerade sagen?“
„Ach, lieber nicht.“
„Wieso denn nicht?“ Theola hatte sich in der leeren Bibliothek umgesehen. „Fassen Sie sich ein Herz. Es hört doch sonst niemand.“
„Na gut.“ Captain Petlos hatte gelächelt. „Ich wollte sagen, wenn doch bloß unser König Interesse an der Sprache seines Volkes hätte.“
„Spricht er sie denn nicht?“
Captain Petlos hatte den Kopf geschüttelt.
„Nicht ein Wort.“
„Wie ist das denn möglich?“ Theola hatte es nicht glauben wollen. „Er ist doch seit zwölf Jahren in Kawonien.“
„Seine Majestät ziehen es vor, Deutsch zu sprechen“, hatte der junge Offizier etwas steif entgegnet.
„Das ist irgendwie verständlich, aber gleichzeitig finde ich es seltsam. Wie sprechen denn die Leute am Hof mit dem König?“
„Sie mußten Deutsch lernen.“
„Aber das ist doch ...“ Theola hatte verlegen gelächelt. „Verzeihen Sie, mir steht keine Kritik zu.“
„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Miss Waring, üben Sie in Kawonien nie Kritik. Wenn der König von unserer