„Ich erlaube mir, Sie zu warnen, weil ich weiß, daß die Engländer manchmal sehr offen sind. Am Hof in Wien kann man sich das nicht leisten, und am Hof König Ferdinands erst recht nicht.“
„Sehr seltsam“, hatte Theola gesagt.
„Deshalb erlaube ich mir ja, Sie darauf aufmerksam zu machen, Miss Waring.“ Der Captain hatte einen schnellen Blick über die Schulter geworfen. „Der Feldmarschall ist übrigens der Meinung, es sei recht unkonventionell, daß wir so viel Zeit zusammen verbringen.“
„Mein Gott!“ hatte Theola gesagt. „Ich wollte Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Das tut mir leid.“
„Es braucht Ihnen nicht leid zu tun, denn mir macht es viel Freude.“
Der junge Offizier hatte sie angelächelt, und zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern hatte Theola das Gefühl gehabt, wie ein ganz normaler Mensch behandelt zu werden.
Sie hatte die Feder weggelegt.
„Bitte, erzählen Sie mir von Ihrem Land“, hatte sie gebeten.
„Wollen Sie die Wahrheit wissen, oder das, was Sie auch in einem Fremdenführer nachlesen können?“
„Die Wahrheit, natürlich.“
„Die Kawonier sind fröhliche Menschen, wenn sie nicht unterdrückt werden. Sie wollen lachen und tanzen, singen und lieben.“ Captain Petlos hatte die Stimme gesenkt. „Aber seit Jahren lacht und tanzt kaum jemand mehr.“
„Warum nicht?“ hatte Theola gefragt.
„Weil das Leben schwer geworden ist.“
„Wieso?“
Captain Petlos hatte seine Worte mit Bedacht gewählt.
„Zum Beispiel, weil die Steuern schier unerträglich geworden sind.“
„Aus welchem Grund?“
„Zur Finanzierung von öffentlichen Gebäuden, zur Renovierung des Palastes, für die Erstellung einer großen Armee und so weiter.“
„Ich denke, Kawonien lebt in Frieden mit den angrenzenden Ländern. Die Türken bedrohen doch das Land nicht etwa?“
„Die Türken haben alle Hände voll damit zu tun, Albanien in Schach zu halten. Falls die Türken einem europäischen Land den Krieg erklären sollten, würde Albanien sofort die Gelegenheit nutzen und revoltieren.“
„Und Griechenland hat doch auch kein Interesse an Kawonien, oder?“
„Nein! König George will den Frieden, weiter nichts.“
„Wozu dann eine große Armee?“
Wieder wählte Captain Petlos die Worte mit Bedacht.
„Weil innerhalb des Landes eine gewisse Unruhe herrscht.“
„Unter der Landbevölkerung?“
Der junge Offizier hatte genickt.
„Die Bauern ernähren sich zum größten Teil von trockenem Brot. Wenn es Ärger gibt, verstecken sie sich in den Bergen.“
„Aber die Soldaten sind doch Kawonier, oder?“
„Schon, aber die Offiziere stammen zu neunundneunzig Prozent aus Österreich. Ich bin eine Ausnahme.“
„Wieso das?“
„Vor knapp zwölf Jahren wurde ein Attentat auf König Ferdinand verübt. Mein Vater hat ihm das Leben gerettet. Zum Dank gewährt der König meiner Familie gewisse Privilegien.“
Er war aufgestanden und hatte die Bücher zusammengesammelt, die er zum Unterricht benutzt hatte.
„Und warum wurde ein Ausländer geholt, um das Land zu regieren?“ hatte Theola gefragt. „In Kawonien hat es doch bestimmt eine königliche Familie gegeben.“
„Ja“, hatte Captain Petlos geantwortet. „Durch Jahrhunderte hindurch waren die Vasilas auf dem Thron. Als der letzte König starb, wurden Stimmen gegen das Königshaus laut. Außerdem war der Thronfolger noch zu jung.“
„Demnach gibt es noch einen Vasilas, der Anspruch auf den Thron hat?“ hatte Theola gefragt.
Zu ihrem Erstaunen hatte Captain Petlos die Frage nicht beantwortet.
Er hatte sich die Lehrbücher unter den Arm geklemmt, die Hacken zusammengeschlagen und sich verbeugt.
„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Miss Waring. Es war mir, wie immer, ein Vergnügen, Ihnen Unterricht geben zu dürfen.“
Steifen Schrittes hatte er dann die Bibliothek verlassen.
Theola war enttäuscht gewesen. Sie hätte den Offizier gerne noch so viel gefragt. In den nächsten zwei Tagen jedoch hatte sie trotzdem eine Menge über das Land erfahren, das sie besuchen sollte. In Kawonien herrschten mehr Unruhe und vor allem Unzufriedenheit unter der Bevölkerung, als der Herzog auch nur geahnt hatte. Die Kawonier schienen von der österreichischen Herrscherschicht auf harte, wenn nicht brutale Weise unterdrückt zu werden.
Als sie die Küste Kawoniens endlich erreicht hatten und das Schiff anlegte, strahlte die Sonne aus einem tiefblauen Himmel. Eine Militärkapelle spielte einen Begrüßungsmarsch, als Catherine mit ihrem Gefolge von Bord ging.
Niemand würdigte Theola auch nur eines Blickes. Es wurden Reden gehalten, und währenddessen hatte Theola Zeit, sich umzusehen. Hohe Berge hoben sich majestätisch gegen den Himmel ab. Ihre Gipfel waren von ewigem Schnee bedeckt, ihre Hänge zierten Pinienwälder und Olivenhaine. Hinter den Holzhäusern an ihrem Fuße Orangen- und Zitronenbäume, auf den Balkons eine Fülle von Geranien.
Als die Kutschen den Hafen Khevea verließen, um in die Hauptstadt Zanthos zu fahren, glaubte sich Theola in einem Märchen. Eine solche Pracht von Blüten und Farben war einfach unvorstellbar. Die Straßen waren mit Girlanden überzogen, überall wehten Fahnen, die Brücken, über die sie fuhren, waren von Soldaten bewacht.
In den Dörfern war alles auf der Straße. Die Menschen in ihrer farbenfrohen Tracht winkten und jubelten. Die Frauen hatten sich Blüten ins Haar gesteckt.
Theola konnte es einfach nicht fassen, daß Catherine sich nicht mehr für ihre zukünftigen Untertanen interessierte. Die Menschen, die die Straße einsäumten, schienen ihr egal zu sein. Es berührte sie nicht im geringsten, daß man sie mit so großer Herzlichkeit empfing. Sie hatte nur Augen für den Premierminister, der sie im Auftrag des Königs am Schiff abgeholt hatte. Theola und Captain Petlos, die ihr gegenüber saßen, ignorierte sie total.
Der Premierminister war ein älterer Mann mit einer knarrenden Stimme und stechenden Augen. Er war Österreicher.
Der Herzog folgte in einer zweiten Kutsche mit dem Feldmarschall und anderen Würdenträgern des Landes. Insgesamt waren es sechs Kutschen, die von Soldaten zu Pferd begleitet wurden.
„Die Soldaten an der Spitze“, erklärte Captain Petlos, „gehören zur Leibgarde des Königs.“
Theola nickte nur. Sie hätte sich gern mit dem jungen Offizier unterhalten, aber sie hatte Angst, dadurch die Konversation zwischen Catherine und dem Premier zu stören und schwieg. Wie gerne hätte sie wenigstens den Kindern zugewinkt, die kleine Blumensträuße auf die Kutschen warfen, aber von niemand beachtet wurden. Ihre Sträußchen wurden unter den Pferdehufen zertrampelt, die Kinder selbst blieben unbeachtet.
Nach einer Stunde Fahrt hatten sie den Rand der Hauptstadt erreicht. Sie überquerten einen breiten Fluß. Die Brücke war mit Blumengirlanden geschmückt und von Soldaten bewacht.
Sie kamen durch enge Sträßchen. Zu beiden Seiten bescheidene Häuser. Zu Theolas Erstaunen waren sie nicht geschmückt und sahen fast unbewohnt aus. Die Fensterläden waren geschlossen. Keine lachenden, winkenden Menschen, keine Blumensträuße. Die Pferde schienen schneller zu laufen, und Theola hätte Captain Petlos gern gefragt, warum hier alles so finster und freudlos