»Mein Ungarwein hat Ihnen sehr warm gemacht, Herr Hauptmann. Kommen Sie an die frische Luft. Ein Glas Limonade wird Sie abkühlen. Befehlen Sie etwas Cremor tartari dazu?«
»Nein!« antwortete der Hauptmann trotzig. »Ein Narr bin ich, wenn ich mit Ihnen einen Tropfen trinke« – und bei diesen Worten verschluckte er ein Glas Ungarwein. Selmann ergriff ihn bei der Hand, um ihn vom Weine wegzuführen, aber er riß sie los und ging aus dem Zimmer.
Selmann ging ihm nach und ging so, daß er ihm im Garten begegnen mußte. – »Wo haben Sie die Blumen her?« fragte ihn der Hauptmann mit militärischer Freundlichkeit. Selmann antwortete noch freundlicher, und nach verschiedenen Gesprächen kam die Rede auf das hitzige Verfahren des Hauptmanns. »Ich habe Sie beleidigt«, sagte der Hauptmann, »und Sie mich; wir wollen aufheben.«
»Keins von beiden ist geschehn«, antwortete Selmann.
»Wieso?«
»Sie haben mich mißverstanden! – Wieso? Ich sagte: für einen weisen Mann, das ist, für einen Mann, der seine Leidenschaften in der Gewalt hat und die menschliche Natur kennt, für einen solchen sind keine Beleidigungen, weil er sogleich die Ursachen von dem unrechtmäßigen Verfahren des andern übersieht und dabei bedenkt, daß die meisten dieser Ursachen nicht von ihm abhingen. Ein feuriges Blut, Unwissenheit, Dummheit, mürrische Konstitution – lauter Ursachen der Beleidigungen, die vom Willen unabhängig sind! und, genau gesprochen, hat noch niemand mit Willen beleidigt. –Wer dieses und andre dahin gehörige Dinge nicht übersieht und aus irgendeiner unwillkürlichen Ursache dahingebracht wird, das üble Betragen eines andern übel aufzunehmen, der ist deswegen kein Narr, sondern er ist nur kein Weiser in jenem Verstande, kein Mann, der die menschliche Natur kennt und Herr seiner Leidenschaften ist.«
Ohne diese Theorie zu billigen oder zu verwerfen oder ohne mehr als den Klang der Worte zu denken, wandte sich der Hauptmann zu dem Haushunde, der eben auf ihn zukam, und erkundigte sich nach seinen Familienumständen so genau, als wenn er ein genealogisches Handbuch davon zu schreiben gedächte. Zum Unglück war Selmann ein so schlechter Genealogist, daß ihm weiter nichts als die Existenz des Hundes bekannt war. Die Fräulein kamen alsdann dazu, mit welchen Selmann einen Spaziergang bis in die nächste Laube tat, und der Hauptmann unterhielt die Hunde, nachdem die Gesellschaft durch des Wächters Spitz vermehrt worden war.
35
Endlich ist einmal die Gesellschaft fort. Nun ist es Zeit zum secum habitare. Selmann hatte den ganzen Nachmittag über schon ein Bedürfnis darnach gespürt, und stehendes Fußes rief er nach dem Abschiede unsern Tobias und ging an seiner Seite in den Garten; denn bekanntermaßen war es für Leute, die in sich selbst zurückkehren wollten, keine sonderliche Hindernis.
Tobias spielte mit einer Rute im Sande, indem er neben ihm herging.
»Alles ist Idee«, fing Selmann an, »alles beruht auf der Vorstellung, spricht der weise Antonin, und er hat recht.
Einer der vorzüglichsten Unterschiede zwischen Mensch und Tier ist es, das Tier wird bloß durch die sinnlichen Eindrücke bewegt, und in gegenwärtigen sinnlichen Eindrücken besteht sein Glück und Unglück, der Mensch wird außerdem noch von bloßen Ideen in Bewegung gesetzt, Ideen, von denen kein sinnliches Urbild außer seinem Verstande existiert – –
Der Mensch hat eine eigne Glückseligkeit, die man die imaginarische nennen könnte, Ruhm, Ehre sind Ingredienzien davon, Ruhm und Ehre sind bloße Ideen. –
Alles beruht auf der Vorstellung – ja wohl, Antonin! –, und die Vorstellung beruht im Grunde auf Sachen, die nicht in unsrer Gewalt sind – Der Begriff, den der Hauptmann von der Ehre hat, ist allmählich durch Umgang, Lektüre, wenn er jemals gelesen hat, durch seine Begebenheiten gebildet worden, und die Konstitution seines Körpers und seiner Seele war eine Vorbereitung dazu. – Wenn er obendrein nicht Begriffe und Kenntnisse genug hat, um bei meinen Worten alles das deutlich zu denken, was zu ihrem Verständnisse nötig ist und ich dabei gedacht wissen wollte, soll ich deswegen auf ihn zürnen? – auch wenn er zu einem unanständigen Bezeigen durch seine Unwissenheit hingerissen wird? Nein, gewiß nicht! –
Wenn jemand wider dich fehlt, so überlege sogleich, was für einen Begriff vom Guten und Bösen er hat. Findest du ihn der Vernunft nicht gemäß, so wirst du ihn bedauern, anstatt dich zu verwundern oder wider ihn zu zürnen – – Denn entweder habe ich ebendenselben oder einen ähnlichen irrigen Begriff, und so muß ich ihm seinen Irrtum vergeben, weil ich vermutlich auch gern sehe, wenn man mir den meinigen vergibt – oder ich urteile besser und richtiger, und so kann ich ja nicht böse auf ihn sein, daß er von mir übertroffen wird – so weiß ich ja, daß seine Beleidigungen mich nicht schlimmer machen, sondern daß er in dem Augenblicke, da er mich beleidigt, schlechter ist als ich –
Weil er nicht einerlei Vorstellungen mit mir im Kopfe hat, soll ich aufhören sein Bruder zu sein?
Es haßt, es verachtet mich jemand, weil ich nicht bin wie er? – Er mag es verantworten! Ich bin und bleibe ich; er kann nicht ich und ich nicht er sein. Unglücks genug für ihn, daß er dies nicht weiß und aus Unwissenheit das Gute, das an mir ist, weder zu seinem Nutzen noch Vergnügen anwendet – und jeder Mensch hat doch eine gewisse Portion Gutes – –
Alle Menschen beleidigen aus Irrtum, aus Irrtum des Verstandes oder der Leidenschaft – Wenn ein Glied an dem großen Körper der menschlichen Gesellschaft zu eitern anfängt, soll ich deswegen auch ein ungesundes Glied werden? –
Wenn alle Menschen denken lernten, die menschliche Natur und ihre eigne kennenlernten; wenn zwischen ihren Begierden ein glückliches Gleichgewicht wäre – oder wenn sie wenigstens bei ihren Mängeln und Gebrechen alle als ihren obersten und einzigen Grundsatz dies annähmen: Alle Menschen sind mit mir verwandt; wenn ich sie liebe, so liebe ich mich selbst – was für ein Himmelreich müßte alsdann unser Planete sein! Das ganze Leben des Menschen wäre nichts als ein immerwährendes Entzücken der Liebe – Haß, Neid, Verfolgung lebten in einer ewigen Verbannung – die ganze Welt wäre eine Republik, wo alle Bürger nach einem Gesetze leben, keiner tun muß, was er nicht soll, und jeder tun kann, was er muß – ein Staat, wo wahre politische Freiheit ist und jeder seine Handlungen dem Besten des Ganzen unterordnet – kurz, wo alle κοινωνοικοι sind.
Über dieser Selbstbetrachtung waren sie unvermerkt zum Garten hinaus, hinter dem Dorfe weg, in ein Lindenkabinett geraten, das Selmanns längst gestorbne Schwester sehr jung gepflanzt hatte. Er ging in sich vertieft hienein und erblickte, als er stillstund, ein noch unbefiedertes Vögelchen auf dem einen Rasensitze, das von einer Linde aus dem Neste gefallen war und dem die Mutter etliche Körner mit einem zärtlichen Kopfnicken in den Schnabel steckte. Der Anblick bewegte ihn so und weckte auf einmal eine solche Menge Ideen auf Veranlassung des Ortes in seinem Kopfe auf, daß er stumm stehnblieb, während daß ein paar Tränen seine Backen herabrollten. Lange blieb er so, bis zuletzt der Vogel sich schüchtern umsah und das Junge verließ.
»O mütterliche, so schwesterliche Liebe!« rief er dann aus und schlug durchdrungen mit der Rechten auf die Brust – »O Schwester, wärst du noch auf der Welt, und alle Menschen liebten sich wie wir –«
Er verstummte, nahm das hülflose Vögelchen und trug es nach Hause.
DRITTER BAND
We first endure, then pity, then embrace.
Pope
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