Ist es Unbekanntschaft mit der Geschichte, oder verhält sich es wirklich so? – Genug, ich besinne mich auf nicht mehr als ein paar unzweifelhafte Beispiele von der Tugend, über welche wir sprechen, aus der griechischen und römischen Geschichte – wohl gemerkt! Beispiele, wo diese Tugend um ihrer selbst willen und nicht wegen einer erzwungen genommnen Rücksicht auf die gegenwärtigen oder künftigen Umstände ausgeübt worden wäre, wo sie aus einer innerlichen Vortrefflichkeit hergeflossen und nicht durch die äußerlichen Konjunkturen ausgepreßt worden wäre.
Die stoische Philosophie verhalf ziemlich zu dieser Tugend; die meisten ihrer Anhänger waren freilich nur elende Grimassierer, die sie im Gesichte und nicht im Herzen hatten; selbst den Epiktet spreche ich von einer feinen Grimassiererei nicht gänzlich los, doch den Antonin ganz. Nur er konnte unbeleidigt sich von Avidius ein philosophisches altes Mütterchen nennen lassen und edelmütig dazu sagen: »Mögen meine Kinder alle umkommen, wenn Avidius mehr als sie geliebt zu werden verdient und es für die Republik zuträglicher ist, daß Cassius lebt als die Kinder des Marcus.« Nur er konnte, als die Treulosigkeit jenes Generals erwiesen zu sein schien, auf die Zunötigungen seiner Gemahlin antworten: »Du ermahnst mich, die Mitschuldigen des Avidius zu bestrafen; ich hingegen werde seiner Kinder, seines Schwiegersohns und seiner Frau schonen und an den Senat schreiben, daß seine Proskription nicht zu strenge und seine Bestrafung nicht zu grausam wird. – Hätte man nach meiner Meinung den Krieg beurteilt, so wäre Avidius nicht einmal umgebracht worden.« Nur er konnte an den Senat schreiben und für seinen Feind um Milderung der Strafe bitten.
Wenn aber auch eine Philosophie geschickt war, Schonung gegen seine Feinde und Geduld bei erlittnem Unrechte einzuflößen, so, dächte man, sollte es die stoische gewesen sein, und doch hat ihr oberster Grundsatz, wie gesagt, es bei ihren wenigsten Schülern wahrhaftig getan. Aber was zu verwundern? »De tout temps«, sagt Leibniz irgendwo, »le commun des hommes a mis la vertu dans les formalités; la véritable vertu, c'est-à-dire les sentimens et la pratique, n'a jamais été le partage du grand nombre.« Wenn kein Wort weiter in der ganzen Theodicee wahr ist, so ist es dieses Urteil, und es ist daher kein Wunderwerk, daß der größere Teil der Stoiker wie andre sterbliche Bewohner unsers Planeten, die stärksten Helden einzig in Formalitäten waren und die größre oder geringre Geschicklichkeit in diesen den größern oder geringern Unterschied zwischen einem Stoiker und einem Idioten ausmachte.
Indessen einen – ich habe ihn schon genennet –, göttlicher Antonin! Könntest du sehn, wie mir meine Wange glüht, wenn ich dich nenne! – Diesen einzigen setze ich über alle übrige Formalitätenkrämer seiner Sekte, selbst über ihren Stifter, hinweg. Bloß um seinetwillen sollte man sich schämen, den gemißbrauchten Namen seiner Sekte zur Verächtlichkeit zu erniedrigen und fühllos und stoisch eins sein zu lassen.
Aber außer den Grenzen des Stoizismus lasse ich in dem kleinen Zirkel der Großmütigen niemanden den Vorrang als – man kann es leicht erraten! – meinem Tobias. Gehörte zum Verdienste der Großmut nur ein Wink mehr, als was er tat? Keine Unempfindlichkeit, kein Mangel an Einsicht war es, daß er die beißenden Grobheiten des Hauptmanns ertrug, dafür stehe ich; er verstund, er fühlte sie, er urteilte sogar, daß es Grobheiten waren: demungeachtet betrug er sich wie der ausgelernteste Stoiker.
Ja, so hatte er doch alles bloß der Natur zu verdanken! – Je, wem sonst hatten es denn die größten moralischen Helden im Grunde zu verdanken als der lieben Natur? Sie schnitzte die Bildsäule, verfertigte alles daran, was sie zu der Bildsäule und zu keiner andern machte; der Künstler half nur hie und da mit dem Meißel nach, machte eine Falte im Gesichte hervorstechender oder suchte einen Fehler so zu verarbeiten, daß man es ununtersucht für keinen Fehler hielt; freilich gewann durch dergleichen Hülfen die Statue oft vieles; aber zuweilen bestund auch die ganze Hülfe des Künstlers bloß darinnen, daß er sie anstrich, und angestrichne Statuen! wer weiß nicht, welchen Wert die haben?
Hatte bei meinem Tobias noch kein Meißel nachgeholfen, war das seine Schuld? Soll er deswegen den Ruhm entbehren, den andre mit vollen Händen empfangen, andre, die wohl eine Künstlerhand verschönert hat, aber ohne daß sie eigentlich mehr dabei taten als mein Tobias? – Seine Aufführung ist aller Bewunderung würdig, dabei bleibe ich.
Die Kunst ist nur, zu wissen, was für ein geheimes Uhrwerk diese Aufführung bewirkte.
Man wird sich zu entsinnen wissen, daß schon einmal in der gefährlichsten Situation die Einbildungskraft meinen Helden ein Muster des philosophischen Betragens werden ließ; diese war auch in dem gegenwärtigen Falle das einzige Triebrad, weiter nichts!
Schon lange, ehe er noch in das Zimmer des Hauptmanns trat, arbeitete er, weil die übrigen Umstände so ziemlich in Richtigkeit waren, an einem Risse zu seinem künftigen Schnurrbarte und arbeitete noch daran, als der Herr Hauptmann seine Geduld auf die schwerste Probe stellte. Unter den witzigen Blümchen, womit ihn jener überschüttete, war eins vom Schnurrbarte; sogleich stund der gesuchte Riß in seinem Kopfe da, so ordentlich, als wenn er präformiert dort gelegen hätte. Die Freude über diesen Fund war nicht geringe und diente statt einer Menge Feuchtigkeiten, die das Gift der Beleidigungen einhüllten und unkräftig machten. Er eilte freudig fort, um an seinen Riß die letzte Hand zu legen.
Ja freilich, sobald man die Maschine entdeckt hat, wodurch menschliche Tugenden regiert werden, so geht es wie bei der Illusion des Theaters: sobald wir die Stricke und das Brett zu genau sehen, auf welchem der Gott herabgelassen wird, der so pompöse Götterbefehle um sich herumdonnert, so schwindet die Illusion, und unsre Bewundrung verwandelt sich in eine Verwundrung, daß wir den verkappten Weltrichter bewundern konnten.
Das ist eben die zu genaue Zergliederung, vor welcher ich so oft schon gewarnt habe und die nicht eher zu verstatten ist, als wenn sie den Stolz der Sterblichen demütigen soll.
Was, Beate, würde aus deinen Tugenden werden, wenn ich sie so zerlegen wollte? Was aus deiner neulichen Sanftmut gegen die harten Beleidigungen eines Vetters, den du hassest und dessen kleinste Versehen du sonst strenge ahndetest? Kein Schnurrbart war die Triebfeder, aber im Grunde nichts Bessers; die Freude über eine kurz vorher eingelaufne Schuldpost, die jedermann für verloren hielt. – Und so ins Unendliche fort, wenn jemand Lust am Zergliedern hat.
Verführen alle Lebensbeschreiber so aufrichtig mit ihren Helden oder könnten sie so aufrichtig mit ihnen verfahren wie ich mit dem meinigen, wie würden die Trophäen, die sie für unsre Bewundrung aufrichten, zerfallen, wie aufgetürmter Zunder zerfallen! Aus Erkenntlichkeit für diese Aufrichtigkeit müssen aber auch meine Leser diese lange ernsthafte Stelle durchlesen, ohne ein einzig Mal zu nicken.
19
Er eilte freudig fort, um an seinen Riß die letzte Hand zu legen, sagte ich kurz vorher – und ging zum Dorfe hinaus, hätte ich hinzusetzen können.
Diesmal hatte er, da der größte Taumel, der die Geburt eines Projektes gewöhnlich zu begleiten pflegt, vorüber war, bei seiner Abreise die Vorsicht gebraucht, sich umständlich nach seinem Wege zu erkundigen, und man hatte ihm so vollständige und deutliche Begriffe davon beigebracht, daß er ihn nicht weniger hätte verfehlen können, wenn er gleich mit Kompaß und Landkarte gereist wäre. Auch wanderte er ihn, einige kleine Umwege ausgenommen, den ganzen Nachmittag über so ziemlich richtig fort, bis endlich die Nacht sich ins Spiel mischte und ihn um Besonnenheit, Herz, Marschroute, Weg und alles brachte.
In dem ganzen Fürstentume war vielleicht kein einziger männlicher