§ I
Man unterscheide sorgfältig den Sitz des Kummers.
§ II
Der Sitz des Kummers ist zwiefach: 1. im Magen, 2. im Blute oder, wie andre lehren, in der Seele.
§ III
α) Hat der Kummer den Sitz im Magen, so ist der Schlaf eine unausbleibliche Folge davon.
§ IV
β) Hat er den Sitz im Blute, so ist der Schlaf unmöglich.
Das wäre so ohngefähr die Theorie in nuce. Wäre ich Professor, so sähe ich diese vier Paragraphen als das Kompendium eines meiner gestorbnen Mitbrüder an, setzte mich auf einen Katheder und zupfte so lange an dem Lehrbuche herum, bis kein einziger Paragraph undurchlöchert geblieben wäre, und flickte darauf jedes Loch so lange wieder zu, bis keine einzige Faser von dem alten Zeuge mehr zu sehn wäre; darauf rückte ich mit lächelnder Selbstgefälligkeit die Parücke zum linken Ohre und freute mich triumphierend mit meinen Zuhörern, daß ihr Herr Professor so ein vortrefflicher Schneider ist, der von einem Paar alten schweren Samtbeinkleidern den Oberzeug stückweise herunterreißt und mit einem schöpferischen Witze neuen, leichten Taffet über das Unterfutter nähen kann. Indessen, da ich für Gelehrte und Ungelehrte schreibe, möchten vielleicht die Letztern aus Unerfahrenheit in der akademischen Etikette am Ende meines Diskurses gar sich einbilden, daß ich besser getan hätte, wenn ich, statt die alten samtnen Winterbeinkleider zu zerreißen und zu überziehen, ein Paar neue von einem guten derben Zeuge, der für jede Jahreszeit sich schickt, verfertigt hätte, und möchten gar noch obendrein behaupten, daß ein scharfsinnigerer Schneider dazu gehörte, ein Paar neue zuzuschneiden und zusammenzunähen, als ein Paar alte – zu zerreißen. Um diesem widrigen Schicksale zu entgehen, verlasse ich für diesmal die gelehrte Methode und wähle die populäre.
Vorausgesetzt, daß alle obige vier Paragraphen die unumstößlichste Wahrheit enthalten – und warum sollte ich dies nicht voraussetzen, da sie allesamt und sonders meine eigne Erfindung sind? – nach dieser Voraussetzung lasse ich nichts als etliche Beispiele zur Erläuterung des dritten und vierten Paragraphen hier folgen.
Limomachus, ein geborner Deutscher, den sein Vaterland empfinden läßt, durch welche gerechte Verachtung es den unerträglichen Stolz bestraft, sich durch Einsichten und Genie über seine Mitbürger erheben zu wollen, der ein Feldherr, ein Eroberer in dem Reiche der Wissenschaften hätte werden können und werden wollte und itzt als Stückknecht unter einem Übersetzungshändler dienen muß – dieser ehrliche Mann hat seinen Kummer augenscheinlich im Magen. Sobald er sich da zu regen anfängt, so setzt sich der arme Limomachus an seinen dreibeinichten Tisch, stützt den wirbelnden Kopf auf die magre Hand, und ehe zwo Minuten vergehen – schnapp! schläft er, schläft er, daß er schnarcht. In diesem Schlafe – wie wunderbar doch die Wirkungen der Natur sind! –, in diesem Schlafe, der oft sehr lange dauert, ergreift seine Hand die vor sich liegende Feder, taucht sie in die Dinte, bewegt sie auf dem daliegenden Papiere hurtig hin und her, wendet das Blatt um, wenn es voll ist, wirft auch zuweilen ein Blatt in einem dabei liegenden gedruckten Buche um, bis alles vorrätige Papier beschmiert ist. In ebendemselben Anfalle von Schlaf oder vielmehr Mondsucht geht er sieben Treppen herunter, durch die Straßen, bis zu der Niederlage des menschlichen Verstandes und Witzes, in welcher er dient, geht halbwachend mit einem halben Gulden wieder zurück, kocht sich Kaffe, und – weg ist Kummer und Schlaf! Das Sonderbarste bei dieser Erscheinung ist noch dieses, daß jedermann, der das zu lesen wagt, was seine Hand in einem solchen Paroxysmus hinschrieb, von einem so tiefen Schlafe überfallen wird, als Limomachus selbst, einige neidische Leute ausgenommen, die dem armen Manne das Glück mißgönnen, im Schlafe so schlecht zu übersetzen, als andre wachend tun; diese Mißgünstigen erwehren sich des Schlafs und ereifern sich darüber, daß Limomachus im Schlafe übersetzt, da doch sein Faktor ihn so schlecht besoldet, daß der Paroxysmus seines Kummers und also auch der Schlaf keinen einzigen Tag ausbleibt. Das war ad § 3.
Ad § 4
Je freilich ist Eustach um die Hälfte magerer als den vorigen Winter! Wie kann's aber auch anders sein? Die Nächte bringt er schlaflos im Bette, den Tag im Lehnstuhle zu, ohne ein Auge zuzutun. Die Zeit der Mahlzeit verseufzt er; alle Säfte stocken, und wenn Kummer und Gram so anhaltend in ihm fortwüten, so ist sein erhabner Körper in kurzem eine Leiche und wird es auf eine so schmerzhafte Weise, als Regulus es durch die Rachsucht der Karthaginienser wurde.
»Der gute Mann! er nimmt sich seines Amtes zu eifrig an; und die Sorgen für das gemeine Wesen ...«
»Ja, wenn er die nur ließe! die haben schon manchen ins Grab gebracht.«
»Was ist ihm denn schon wieder Widriges begegnet?«
»Sein großer Truthahn, den er schon drei Monate mit Semmelschnitten und Milch auf das köstlichste bewirtet hatte – ist vor vier Wochen – im Fette erstickt!«
Der Kummer sitzt hier im Blute; wer kann noch daran zweifeln? Und daher kann Eustach nicht schlafen, und wenn er auch, um sich den Schlaf vom Himmel zu erkaufen, alle Notleidende in einem Umkreise von sechs Meilen statt der Soupe dauphinoise mit Sagosuppen und Rebhühnerpasteten speisen wollte; wenn er es auch sich selbst abbräche; da hilft nichts!
Auch Placidien würde es nichts helfen, wenn sie gleich das Gelübde täte, in allen Assambleen unfrisiert zu erscheinen.
»Haben Sie sie denn gestern in der Komödie gesehn? Sie sieht sich nicht mehr gleich.«
»Die schöne blühende Dame dort vorne am – Hm! ich weiß schon, die Sie immer die Göttin ihres Geschlechts nannten!«
»Ja, ebendie!«
»Wie geht denn das zu, daß sie so sehr von ihrer Götterschaft heruntergekommen ist?«
»Ihr Mann ist gestorben –«
»Je es war ja so ein alter Brummbär –«
»Ach, das ist noch das geringste! Vor acht Tagen sollte sie plötzlich Cour machen, und die Pleureusen waren noch nicht fertig. Denken Sie den Jammer!«
»Ging sie denn?«
»Sie mußte, aber ohne Pleureusen, seitdem hat sie kein Auge zugetan. – Überhaupt ist ihre Familie eine unglückliche Familie; ihrem Bruder, dem Herrn Ge+l+m+n+sor, geht es nicht besser. Da er fetter ist als seine Schwester, so kann sein Körper die Wirkungen des Kummers länger und stärker leiden, ehe sie sichtbar werden; aber im Grunde bringt er seine Nächte so schlaflos zu wie seine Schwester, nur mit dem Unterschiede, daß sie über (ihren Mann!) ihre Pleureusen weint, wenn er über seine Feinde, wie er sie nennt, flucht.«
»Ach gewiß deswegen, weil da – der – Sie wissen ja wohl! – das Amt bekommen hat, auf das sich der Herr Ge+l+m+n+sor große Rechnung machte. Freilich wohl! So viele Taler Einkünfte sind keine Kleinigkeit, um sie sich so ruhig vor dem Gesichte wegnehmen zu lassen.«
»Allerdings! und zudem ist ja sein Nebenbuhler, der es ihm wegnahm, wenigstens um sechzig Pfund leichter als er! eine dürre, kleine, hagere Figur, die sich bei einer Einnahme von vierhundert hätte überflüssig satt essen können. Soll der Herr Ge+l+m+n+sor nicht über eine solche Ungerechtigkeit fluchen, da sein feister Körper augenscheinlich für dieses Amt gemacht war, für den eine Stelle mit den Einkünften eines Mogols nicht zu viel wäre, wenn er ihn nach Stand und Würden gehörig bedienen wollte.«
»Aber der Mann hat ja nicht die geringsten Verdienste!«
»Desto schlimmer! Ein Mann ohne Verdienste ist bei ein- oder zweitausend Talern Einkünften doch ein- oder zweitausend Taler wert; aber ohne dieselben gar nichts.«
»Ach, er hätte ja der Arbeit gar nicht vorstehen können.«
»Wunderlicher Mann! das würde ihm nicht