»Das wird ja heute wieder endlos«, stöhnt er zu seinem Vordermann, »todsicher ist der Fraß eiskalt, wenn wir auf die Zelle kommen. Und heute gibt’s Erbsen.«
Der vor ihm dreht sich um. Er ist ein langes Reff1 in einer unglaublichen Kledage,2 Röhren aus lauter hell- und dunkelblauen Flicken, eine Weste, die so kurz ist, dass zwischen Hosen- und Westenrand eine Handbreit Hemd hervorsieht, und eine Jacke mit Ärmeln nur bis an die Ellbogen. Darüber ein kleiner, blasser, böser Kopf.
»Dich haben sie ja beim Hausvater fein in der Mache gehabt«, sagt Kufalt. »Hast ihn wohl geärgert. – Wie lange reißt du ab?«
»Sprechen Sie mit mir?« fragt das Reff. »Darf man denn hier sprechen?«
»Nee. Aber du darfst ruhig du zu mir sagen, unsre Kübel werden doch alle zusammen ausgeschüttet. – Wie viel musst du abreißen?«
»Ich bin zu zwei Jahren Gefängnishaft verurteilt. Aber ich bin unschuldig, zwei Zeugen haben einen Meineid geschworen. Ich habe schon Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet.«
»Das mit dem Meineid sagen wir alle, wenn wir reinkommen«, tröstet Kufalt. »Das gibt sich. – Was hat auf deinem Schild über der Zelle gestanden, vor der Verhandlung?«
»Schild …? Wie meinen Sie das? Ach so! Untersuchungsgefangener, also ein ›U‹.«
»Quatsch, das ›U‹ heißt doch nicht Untersuchungsgefangener, das heißt Unschuldiger. Und was hängt jetzt an deiner Zelle?«
»Strafgefangener. ›S‹.«
»Wieder Quatsch. Schuldiger! Das ist alles ganz einfach. Wenn du verknackt bist, bist du auch schuldig, da hilft kein Reden. Urteil ist Urteil. Rede hier bloß keinen Stuss von wegen Meineidsanzeigen, auf die süße Tour fallen wir hier nicht rein. Da sind ’ne ganze Menge, die nehmen das gewaltig sauer, wenn du so daherredest.«
»Na, erlauben Sie mal, ich bin unschuldig, meine Frau und mein Prokurist werden ein paar Jahre Zuchthaus wegen Meineid kriegen. Hören Sie mal zu, ich werde Ihnen das erzählen …«
Aber er kommt nicht mehr zum Erzählen. Vom Glaskasten her klingt heftiges Schlüsselgeklopfe. »Herr Petrow, passen Sie gefälligst auf! Der Lange da, der Menzel, schwatzt immerzu mit dem Kufalt.«
Petrow stürzt sich wutentbrannt auf den »Unschuldigen«. »Soll ich dir Giftzahn ausreißen, Laster, langes, geklebtes? Bist du in Judenschule, denkst du? Glaubst du? Marsch, marsch, marsch, Linken, Rechten, Linken, Rechten, in Arrestzelle, kannst du reden mit Eisen, bis Arzt kommt, Schwätziges, du!«
Knack, knack, die Zellentür fliegt zu, der ganz verstörte Lange ist verschwunden, und im Vorbeigehen flüstert Petrow strahlend dem Kufalt zu: »Hat er Schiss gekriegt, der Neue? Bin ich schrecklich wütend? Söhnchen, mach mit dem nicht Kumpelage, immer ist das bei Direktor und Inspektor und schwätzt alles, was es hört.«
Und Petrow ist schon zehn Schritte weiter. Da stehen isoliert zwei Braune, schmucke Zuchthaushusaren, sicher auf Transport hier. Und die beiden Isolierten hatten drei Schritte vorwärts gemacht, vom Linoleum herunter auf den gewachsten Zementboden, wohl um etwas Anschluss zu finden bei den anderen Gefangenen, vielleicht wegen Tabak …
»Bleibt sich hier die Herren, auf dem braunen Linolei, immer auf dem Linolei! Hier, die Herren!«
Die Zuchthäusler sehen nicht auf, sie sehen starr vor sich in die Luft, hören nichts, rühren sich nicht. Kufalt stellt wieder fest, dass Zuchthäusler eine ganz andere Art haben, mit Beamten umzugehen. Gefängnisgefangene schmusen sich an, suchen auf Du und Du zu kommen, der Zuchthäusler hat nie einen Beamten gesehen, die sind alle Luft für ihn.
Petrow empört sich ernstlich: »Auf den Linolei! Auf den Linolei!«
Die beiden hören nichts, sehen nichts. Nur wie zufällig machen sie gerade jetzt einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte – und stehen wieder auf dem Linoleum. Den Beamten haben sie gar nicht gesehen.
Die Tür zum Lazarett tut sich auf. In seinem weißen Mantel erscheint der Lazaretthauptwachtmeister. »Vorführung zum Arzt!«
»Paarweise antreten!« schreit Petrow. »Einrücken ins Lazarett!«
Und im selben Augenblick bricht die sorgfältig bewahrte Ruhe und Ordnung zusammen. An die fünfzig Gefangene rücken mit Gelärm und Geschwätz durch die enge Schlucht eines Ganges über eine Treppe ins Lazarett. Petrow versucht, wenigstens die beiden Zuchthäusler im Auge zu behalten, aber sofort sind die untergetaucht zwischen den anderen, tauschen Worte, ihre Hände fassen zu.
»Na, wartet! Werde ich filzen euch auf Tabak, Schweine, miserablige! – Na, lass sie! – Stellt euch hierhin, ihr beide!«
»Alles in zwei Gliedern aufstellen, die Gesichter zur Wand, die Rücken gegeneinander. Schuhe und Pantoffeln ausziehen und vor sich stellen!« kommandiert der Lazaretthauptwachtmeister.
Es geschieht, ein Name wird aufgerufen, und der Gefangene verschwindet im Arztzimmer, der Hauptwachtmeister hinterher.
»Das wird heute wieder endlos dauern«, haucht Kufalt zum kleinen Bruhn, der neben ihm steht.
»Weiß man nicht, Willi«, flüstert Bruhn. »Manchmal macht er sechzig in einer halben Stunde fertig. Siehst du, geht der Krach schon los.«
Aus dem Arztzimmer tönt Geschimpfe, Geschrei, der Gefangene erscheint, wutrot. »Aber ich bin wirklich krank, ich beschwere mich beim Strafvollzugsamt, das lasse ich mir nicht gefallen!«
»Gehen Sie schon, gehen Sie«, drängelt der Hauptwachtmeister.
»Simulantengesindel«, hört man den Arzt schreien. »Ich besorg’s euch! Der nächste!«
»Riecht heute sauer«, sagt Batzke auf der anderen Seite von Kufalt. »Wenn er schon beim Ersten so anfängt …«
»Wenigstens kommen wir dann schneller dran. Ich will noch zum Fußball. Du doch auch?«
»Weiß noch nicht. Mein Affenfett ist alle, ich muss erst noch mal auf die Anschaffe.«
»Müssen wir uns eigentlich ganz ausziehen« fragt Kufalt.
Und Batzke: »In Fuhlsbüttel mussten wir’s. Wie’s hier bei den Preußen ist, weiß ich nicht.«
»Unsinn«, flüstert Bruhn von der anderen Seite. »Gar nichts wird gemacht. Der sieht uns gar nicht an.«
»Glaub ich nicht«, sagt wieder Kufalt. »In der Strafvollzugsordnung steht doch, dass die Gefangenen vor ihrer Entlassung gründlich auf Gesundheit