Hätte nicht so sein sollen zu Wachtmeister Steinitz, denkt er. Gemein war das. Bloß damit die grünen Jungens, die Stubben, sehen, dass ich ihn in der Tasche habe. Es lohnt nicht, alles mache ich verkehrt – wie wird’s draußen gehen?
Wenn der Schwager doch erst schriebe …! Aber so … da ist die Welt draußen, all diese Städte und die Zimmer, von denen man eines mieten muss, und die Arbeitsstellen und das Geld, das viel zu schnell alle wird – und was dann?
Er starrt vor sich hin. Keine achtundvierzig Stunden trennen ihn vom Entlassungstermin, den er so heiß herbeigesehnt hat seit fünf Jahren. Nun ist ihm angst. Hier ist er gern gewesen, er hat sich rasch gefunden in den Ton und die Art, er hat schnell gelernt, wo man demütig sein muss und wo man frech werden kann. Seine Zelle ist immer blank gewienert gewesen, sein Kübeldeckel hat stets geglänzt wie ein Spiegel, und den Zementboden seiner Zelle hat er zweimal die Woche mit Grafit und Terpentin geputzt, dass er geschimmert hat wie ein Affenarsch.
Sein Pensum hat er immer gestrickt, oft zwei, manchmal sogar drei, er hat sich Zusatzlebensmittel kaufen können und Tabak. Er ist in die zweite Stufe gekommen und in die dritte, ein vertrauenswürdiger Mustergefangener, in dessen Zelle die Kommissionen geführt wurden und der stets angemessen und bescheiden geantwortet hat.
»Ja, ich fühle mich sehr wohl hier, Herr Geheimrat.«
»Nein, ich merke, es tut mir gut, Herr Oberstaatsanwalt.«
»Nein, ich habe über nichts zu klagen, Herr Präsident.«
Aber manchmal – jetzt grinst er, er denkt daran, wie er den kleinen Studentinnen, die Wohlfahrtsfürsorgerinnen werden wollten und ihn so gierig nach seiner Straftat fragten, wie er denen demütig statt Unterschlagung und Urkundenfälschung geantwortet hat: »Blutschande. Hab mit meiner Schwester geschlafen. Leider.«
Er denkt an das entzückt über diesen Witz grinsende Gesicht des Polizeiinspektors und an die eine Studentin, die ihm mit flammendem Blick immer dichter auf den Leib rückte. Nettes Mädchen, hat ihm guten Stoff für manches Einschlafen geliefert.
Und die feine Zeit, als er beim katholischen Pfaffen immer den Altar rüsten musste, trotzdem der sich heftig gegen einen »Evangelischen« gewehrt hatte. Aber es gab »keine vertrauenswürdigen Katholiken« im Bau, das war ein Hieb der evangelischen Beamten gegen den katholischen Pfarrer.
Wie er da hinter der Orgel gestanden und Luft in die Bälge gepustet hatte, und der Kantor gab ihm jedes Mal eine Zigarre, und einmal war der katholische Kirchenchor oben, und die Mädels schenkten ihm Schokolade und feine Toilettenseife. Hinterher nahm sie ihm freilich der Hauptwachtmeister Rusch wieder ab. »Puff! Puff!« hatte er in Kufalts Zelle geschnuppert, »riecht hier wie Puff.« Und hatte so lange gesucht, bis er sie gefunden hatte und die olle Sodaseife wieder Trumpf war.
Nein, eine gute Zeit hatte er gehabt, alles in allem, eigentlich kam die Entlassung etwas Hals über Kopf. So recht vorbereitet war nichts, er würde ganz gerne noch so sechs oder acht Wochen bleiben, sich auf die Entlassung rüsten. Oder war es, dass er auch schon meschugge war, zu spinnen anfing …? Er hatte es ja hundertmal erlebt, die Vernünftigsten, die Ruhigsten wurden kurz vor der Entlassung durchgedreht, fingen an zu spinnen. War er auch soweit?
Vielleicht ja, das mit dem Netzemeister und dem dicken Juden, da so einfach in die Zelle, das hätte er früher nicht riskiert, und das mit Wachtmeister Steinitz auch nicht.
Wenn nur erst der Schwager schriebe! Hatte der Hauptwachtmeister heute schon die Post verteilt? Schwein das, auf den konnte man sich auch nie verlassen, hatte er keine Lust, gab er drei Tage keine Post aus!
Kufalt macht ein paar Schritte und stutzt. Er hat doch die Waschschüssel stets so auf dem Schränkchen stehen, dass ihr Rand millimetergenau mit der Schrankkante abschneidet? Und jetzt steht sie mindestens einen Zentimeter zurück?
Er öffnet die Schranktür.
Kieke da, der hat meine Zelle durchgefilzt, das olle Stielauge, der Netzemeister! Hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben auf seinen Hunderter! Na, warte, mein Junge, wenn du dich da man nicht schneidest!
Kufalt wirft einen argwöhnischen Blick gegen den Spion und greift dann rasch an sein Halstuch. Es knittert beruhigend darin. Aber nun fällt ihm ein, dass in spätestens einer halben Stunde Vorführung beim Arzt ist, und da muss er sich ausziehen und darf also den Hunderter nicht bei sich haben. Das weiß der Netzemeister auch, dann wird er die Zelle noch mal filzen …
Kufalt zieht grübelnd die Stirne in Falten. Er weiß natürlich, dass es in der Zelle kein Versteck gibt, das die Beamten nicht kennen. Die haben da vorne eine Liste, ein Wachtmeister hat es ihm mal erzählt; zweihundertelf Möglichkeiten gibt es, in dem Dreckding von Zelle was zu verstecken.
Aber für ihn handelt es sich jetzt nur darum, ein Versteck zu finden, das anderthalb Stunden vorhält. Länger dauert die Vorführung beim Arzt nicht, und länger hat der also auch keine Zeit zu suchen.
Im Rücken vom Gesangbuch? Nein, das ist schlecht. In der Kapokmatratze? Das wäre nicht dumm, aber dafür ist die Zeit jetzt zu kurz, er kann nicht auftrennen und zunähen in der halben Stunde bis zur Vorführung. Außerdem müsste er sich erst das passende Garn von den Sattlern besorgen.
Nun zeigt es sich, dass es dumm war, den Kübel zu leeren, anderthalb Stunden in dem Dreck auf dem Boden zu liegen, das hätte dem Hunderter nichts geschadet, das wäre wieder rauszukriegen gewesen, aber nun war der Kübel leer.
Unter den Tisch kleben?
Am besten unter den Tisch mit Brotkrumen festkleben!
Er dreht schon an den Kügelchen, aber dann lässt er es wieder: Es ist zu bekannt, und ein Blick genügt. Lieber nicht.
Kufalt wird nervös. Es klingelt schon zum Schluss der letzten Freistunde, in einer Viertelstunde geht die Vorführung los. Ob er den Schein doch mit zum Arzt nimmt? Er könnte ihn ganz fest zusammenrollen und sich hinten reinstecken. Aber vielleicht gibt der Netzemeister dem Hauptbullen vom Lazarett einen Wink, und dann wird er so gefilzt – die sind imstande und untersuchen ihn auf Mastdarmkrebs!
Er ist ratlos. Es ist genau, wie wenn er rauskommen wird. Da sind auch so viele Möglichkeiten, und bei allen ist ein »Aber« dabei. Man muss sich entscheiden können, aber das eben kann er nicht. Wie soll er auch? Die haben ihm doch hier fünf Jahre lang jede Entscheidung abgenommen. Die haben gesagt: »Friss!«, und da hat er gefressen. Die haben gesagt: »Geh durch die Tür!«, und da ist er durchgegangen, und: »Schreib