»Höre mal«, sagte der Dicke, »renne mal nicht so in der Zelle hin und her, damit machst du mich nervös! Setz dich mal ruhig dort auf den Schemel, nimm aber erst das Kissen runter, es ist nämlich mein Privatkissen. Auf deine Falle kannst du dich noch nicht legen, deinen Strohsack bringt dir der Olle erst heute Abend. Gott, wie mich dieser Stall ankotzt!« Damit gähnte der Dicke herzhaft, ließ einen Fürchterlichen fahren – ich fuhr erschrocken zusammen –, stöhnte: »Das hat aber gutgetan!«, und war auch gleich eingeschlafen.
Ich aber will nicht länger in solcher Breite die ersten Tage meiner Untersuchungshaft erzählen. Sie waren so qualvoll, dass ich eines Nachts leise aufstand, an den Schrank des Dicken ging und aus seinem Rasierapparat die Klinge nahm: Ich wollte mir den Hals durchschneiden. Nur brachte ich nachher doch den Mut dazu nicht auf. Ich hatte probeweise erst einen Schnitt am Handgelenk getan, der nur wenig blutete, mich aber beruhigte. Der Wille zum Leben siegte, und ich tat die Klinge noch in der gleichen Nacht in den Apparat zurück.
Im Ganzen aber ging meine Entwöhnung vom Alkohol leichter, als ich erwartet hatte. Ich war eben doch noch kein richtiger Trinker gewesen, hatte erst kurze Zeit mich dem Schnaps ausgeliefert und nie weiße Mäuse laufen sehen. Viel half mir bei dieser Entwöhnung, dass ich mich schon den dritten oder vierten Tag freiwillig zur Arbeit meldete. Ich hielt das tatenlose, grübelnde Herumsitzen in der Zelle und vor allem die Gesellschaft des Dicken, der übrigens Düstermann hieß, nicht aus. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht, wäre ich gezwungen gewesen, alle Tage vierundzwanzig Stunden in seiner Gesellschaft zuzubringen.
Er war nichts wie ein Vieh; ein unverhüllt egoistischerer Mensch ist mir nie vorgekommen. Er hatte sich alle Erleichterungen, die das Gesetz dem Untersuchungshäftling zugesteht, verschafft: hatte auf dem harten Strohsack Decken und Kissen, bekam regelmäßig zu rauchen und Fresspakete, gab aber nie auch nur das geringste ab. In den ersten Tagen, da ich noch kein eigenes Waschzeug auf der Zelle hatte, verbot er mir sogar die Benutzung seines Kammes. Nicht einmal seinen Spiegel durfte ich in die Hand nehmen, und nur widerwillig erlaubte er mir, von seinen alten Zeitungen ein Blatt als Klosettpapier zu benutzen.
»Nee, nee, Sommer«, sagte er dann wohl, »hier heißt’s: ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!‹ Wie komme ich dazu, für dich zu sorgen? In was sorgst du denn für mich? Bloß nervös machst du mich.«
Das war auch so ein Punkt, der mich rasend machen konnte: Alles, was ich tat, machte Düstermann nervös. Ich durfte nicht in der Zelle auf und ab gehen; drehte ich mich nachts auf dem Strohsack rum, so schimpfte er über Ruhestörung; wollte ich einmal das kleine Fensterloch öffnen, so schrie er, er verkühle sich die Glatze, und wir mussten weiter in Hitze und Gestank hocken. Er aber erlaubte sich alles. Er fraß sinnlos die Fresspakete auf, die seine Frau zweimal wöchentlich für ihn ablieferte, saß den Tag sechsmal auf dem Kübel, furzte ständig mit einer wahren Wollust und schnarchte nachts so laut und andauernd, dass ich viele Stunden lang wach liegen musste, den trübsten Gedanken ausgeliefert. Wenn ich je einen Menschen aus meines Herzens tiefstem Grunde gehasst habe, so war es Düstermann.
Ich habe mir oft überlegt, wie ein solches Vieh unbeanstandet draußen in der Freiheit hat leben und sogar eine Ehe hat führen können, in der die Frau auch jetzt noch zu ihm hielt. Ich sagte mir dann nach einigem Nachdenken, dass Düstermann draußen wohl einen jener vitalen, genussfreudigen, anscheinend zutraulichen dicken Geschäftsleute gespielt hat, die von den Leuten mit lächelndem Wohlwollen betrachtet werden. Sicher hat er sich nicht so gehen lassen wie bei mir in der Zelle, aber ich war eben auch nur ein Kittchenbruder, und bei mir kam es nicht mehr darauf an. Ich habe in späterer langer Leidenszeit mit sehr viel einfacheren Leuten, als es Düstermann war, zusammengelegen, mit Arbeitern, ja mit Stromern, aber keiner hat sich so gemein gehen, so unverhüllt allen seinen Trieben ihren Lauf gelassen wie dieser Düstermann.
Von Beruf war er nichts als Häuserbesitzer, er war der Sohn eines reichen, längst verstorbenen Vaters, der ihm eine Reihe stattlicher Zinshäuser und andere Liegenschaften hinterlassen hatte. Mit der Verwaltung dieses Grundbesitzes hatte Düstermann bisher sein Leben verbracht. Und bei der Verwaltung dieses Besitzes war ihm dann auch jenes Missgeschick passiert, das ihn in das Gefängnis führte und mir zum Zellengenossen gab. Da er auch draußen sich alles, anderen aber nichts gönnte, und jede Freiheit für sich in Anspruch nahm, hatte er eines seiner Zinshäuser, dessen baufälliger Zustand ihn schon lange geärgert hatte, höchstpersönlich angesteckt, um mit der hohen Versicherungssumme die Neubaukosten zu decken. Bei dem Brande war eine Frau mit ihrem Kinde ums Leben gekommen.
»Das dumme Luder!«, konnte Düstermann wohl schimpfen. »Konnte sie nicht rechtzeitig rauslaufen wie alle anderen?! Aber nein, das dämliche Aas musste ja erst irgendwelchen Dreck in einen Koffer stecken, und dann machte ihr der Rauch die Flucht unmöglich. Was kann ich für die Dummheit von der Ollen?
Der Staatsanwalt will mir natürlich einen Strick daraus drehen! Aber da kennt er Düstermann schlecht. Die besten Anwälte habe ich mir genommen, und geht alles schief, lasse ich mir den § 51 geben, bin geisteskrank und lebe als Rentier in irgendeiner hübschen Klapsmühle.« Seine Schuld an dieser Brandstiftung gab Düstermann ganz offen zu. »Ja, Mensch, wozu soll ich denn lügen? Sie haben mich doch mit der Petroleumkanne in der Hand geschnappt! Da hat Leugnen doch keinen Zweck! Ja, wenn ich in der Lage wie du wäre, würde ich auch leugnen bis zum Verrecken – aber so – bin ich eben geisteskrank!« Er lachte dröhnend.
»Im Grunde«, fuhr er wohl fort und bemitleidete sich dabei selbst, »hat mich bloß meine Gutmütigkeit dazu gebracht. Ich bin eben einfach ein gutmütiger Dussel. Ich konnte es nicht sehen, dass die Leute weiter in einer so baufälligen, verwanzten Baracke hausten. Anständige Wohnungen wollte ich ihnen schaffen – und das habe ich nun von meiner Gutmütigkeit!«
Dieser Düstermann also machte es, dass ich mich freiwillig zur Arbeit meldete, und seines beißenden Hohnes war ich dabei sicher. Wenn ich abends von der Arbeit in die Zelle zurückkam, mit müden Knochen, aber doch friedlicher im Herzen, so begrüßte er mich etwa so: »Da kommt ja der Musterknabe! Na, hast du fleißig gearbeitet? Hast dich bei dem Schwein von Inspektor beliebt gemacht? Du wirst dich schön geschnitten haben! Der Staatsanwalt schickt dich deshalb doch genauso lange ins Kittchen, wie wenn du hier ruhig in der Zelle sitzen bliebest! Solche Arschkriecher wie