»Wo ist meine Frau, Else?«, frage ich.
»Die gnädige Frau ist in die Stadt gegangen«, antwortet Else, mit einem kurzen, fast ängstlichen Aufblicken zu mir.
»Aber es ist Abendbrotzeit, Else!«, sage ich vorwurfsvoll, obwohl ich nicht die geringste Neigung habe, jetzt ein Abendessen einzunehmen.
Else zuckt erst die Achseln, dann sagt sie, wieder mit einem raschen Aufblick: »Es ist vom Geschäft angerufen worden; ich glaube, Ihre Frau ist ins Geschäft gegangen …«
Ich schlucke mühsam, ich fühle, wie mein Mund trocken geworden ist. »Ins Geschäft?«, murmele ich. »O du lieber Gott! Was will denn meine Frau im Geschäft, Else?«
Sie zuckt die Achseln. »Ich weiß doch nicht, Herr Sommer«, sagt sie, »die gnädige Frau hat mir nichts gesagt.« Sie besinnt sich, dann setzt sie hinzu: »Die haben gleich nach drei angerufen, und seitdem ist Ihre Frau fort …«
Über vier Stunden ist Magda also schon im Geschäft – ich bin verloren. Wieso ich verloren bin, weiß ich nicht, aber dass ich’s bin, das weiß ich. Ich werde schwach in den Knien, ich stolpere ein paar Schritte vorwärts und lasse mich schwer auf einen Küchenstuhl fallen. Den Kopf werfe ich auf den Küchentisch. »Es ist aus und vorbei, Else«, stöhne ich, »ich bin verloren. Ach, Else …«
Ich höre, wie sie mit einem erschrockenen Laut das Plätteisen aufsetzt, dann kommt sie zu mir gegangen und legt die Hand auf meine Schulter. »Was ist denn, Herr Sommer?«, fragt sie. »Ist Ihnen nicht gut?«
Ich sehe sie nicht, ich hebe das Gesicht nicht aus dem Schutz meines Armes, ich schäme mich vor diesem jungen Ding meiner hervorquellenden Tränen. Es ist ja alles aus und vorbei, alles verloren, Firma, Ehe, Magda – ach, hätte ich nur heute Mittag nicht auch noch den Rotwein ausgetrunken, davon ist erst alles so schlimm geworden, ohne das wäre Magda nie ins Geschäft gegangen. (Flüchtiger Nebengedanke: Das mit der leeren Rotweinflasche muss ich auch noch in Ordnung bringen!)
Else schüttelt mich leicht an der Schulter. »Herr Sommer«, sagt sie, »lassen Sie sich doch nicht so gehen! Legen Sie sich noch einen Augenblick hin, und ich mache Ihnen unterdes sofort Abendessen.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich will kein Abendessen, Else! Meine Frau müsste jetzt hier sein, es ist doch Zeit …«
»Oder«, sagt Else überredend, »wollen Sie hier bei mir in der Küche ein bisschen essen, Herr Sommer?« Selbst etwas bedenklich: »Wo Ihre Frau doch fort ist …«
Dieser ganz unerhörte Vorschlag hat gerade durch seine Neuheit etwas Bestechendes. Hier in der Küche bei Else essen – was Magda wohl dazu sagen würde? Ich hebe den Kopf und sehe Else zum ersten Mal richtig an. Ich habe sie noch nie so angesehen, für mich war sie immer nur ein dunkler Schatten meiner Frau in den hinteren Regionen des Hauses. Jetzt sehe ich, dass Else ein recht nettes dunkelhaariges Mädchen von etwa siebzehn Jahren und etwas robuster Schönheit ist. Sie hat unter einer hellen Bluse eine volle Brust, und bei dem Gedanken, wie jung diese Brust ist, fühle ich eine Welle von Hitze über mich laufen.
Aber dann besinne ich mich. All dies ist unmöglich, schon mein Sich-vor-Else-Gehenlassen eben war ganz unmöglich. »Nein, Else«, sage ich und stehe auf. »Es ist sehr nett von dir, dass du mich ein wenig trösten willst, aber ich gehe jetzt besser auch ins Geschäft. Sollte ich meine Frau verfehlen, sage ihr bitte, ich sei auch ins Geschäft gegangen.« Ich wende mich zum Gehen.
Plötzlich wird es mir schwer, aus der Küche und von diesem freundlichen Mädchen fortzugehen. Ich stehe da noch einen Augenblick unter der Tür und sehe sie an. Es fällt mir auf, wie blass ihr Gesicht ist und wie gut die dunklen, hochgeschwungenen Augenbrauen dazu passen. »Ich habe viele Sorgen, Else«, sage ich unvermittelt, »und ich habe keinen, Else, der mir beisteht.« Ich wiederhole mit Nachdruck: »Keinen und keine, Else, du verstehst mich?!«
»Ja, Herr Sommer«, antwortet sie leise.
»Ich danke dir, Else, dass du so nett zu mir warst«, sage ich noch und gehe. Erst als ich mich im Badezimmer zurechtmache, fällt mir ein, dass ich soeben Magda verraten habe. Verraten und betrogen. Betrogen und belogen. Aber gleich zucke ich die Achseln: Recht so! Immer tiefer hinab. Immer schneller hinein. Nun gibt es doch kein Halten mehr!
6
Vorsichtig ging ich den Weg zu meinem Geschäft, vorsichtig, denn ich wollte es um jeden Preis vermeiden, Magda auf der Straße zu treffen. Dann stand ich auf der anderen Straßenseite im Schatten einer Einfahrt und sah zu den fünf Parterrefenstern meiner Firma hinüber. Zwei, mein Chefbüro, waren erleuchtet, und manchmal sah ich auf den Milchglasscheiben die Schattenrisse zweier Gestalten: Magdas und die meines Buchhalters Hinzpeter. ›Sie machen Bilanz!‹, sagte ich mir mit einem tiefen Erschrecken, und doch war diesem Erschrecken ein Gefühl der Erleichterung beigemischt, weil ich nun die Führung des Geschäftes in den tatkräftigen Händen Magdas wusste. Das sah ihr so recht ähnlich, sofort nach dem Erfahren der schlimmen Nachrichten sich volle Klarheit zu verschaffen, die Bilanz zu ziehen!
Mit einem tiefen Seufzer wandte ich mich ab und ging durch die Stadt hindurch, aus ihr hinaus, aber nicht meinem Heim zu. Was sollte ich auf dem Büro, was in meinem Heim? Die Vorwürfe noch aufsuchen, die mir notwendig gemacht werden mussten, eine Rechtfertigung versuchen, dort, wo nichts zu rechtfertigen war? Nichts von alledem – und indem ich wieder in das langsam immer dunkler werdende Land hinauswanderte, wurde mir mit schmerzhafter Gewissheit klar, dass ich ausgespielt hatte. Ich hatte, endgültig, meine Stellung und meinen Sinn im Leben verloren, und ich fühlte nicht die Kraft in mir, eine neue zu suchen oder gar um die verlorene zu kämpfen. Was sollte ich noch? Wozu lebte ich noch? Da ging ich dahin, wanderte fort von Kontor, Frau, Vaterstadt, ließ das alles hinter mir – aber ich musste doch einmal wieder heimkehren, nicht wahr? Ich musste mich Magda gegenüberstellen, ihre Vorwürfe anhören, mich mit Recht Lügner und Betrüger schelten lassen, musste zugeben, dass ich versagt hatte, auf eine schmähliche und feige Art versagt!
Unerträglich war dieser Gedanke, und ich fing an, mit dem Gedanken zu spielen, gar nicht wieder heimzukehren, in die weite Welt hinauszugehen, irgendwo im Dunkel unterzutauchen, in einem Dunkel, in dem man auch untergehen konnte – ohne Nachricht, ohne letzten Ruf. Und während ich mir das alles – in leichter Rührung über mich selbst – ausmalte, wusste ich doch, dass ich mir etwas vorlog, nie würde ich den Mut haben, ohne Zureden, ohne die Geborgenheit des heimischen Herdes zu leben. Nie würde ich auf das gewohnte weiche Bett verzichten können, die Ordnung des Heims, die pünktlichen nahrhaften Mahlzeiten! Ich würde heimkehren