Sie sah ihn groß an. Einer, der solche Musik machen konnte, und fragte so. „Wo ist dein anderer Arm?“ fragte sie. „Laß einmal sehen, unter dem Kittel.“
„Der? liegt in Frankreich begraben,“ sagte er. „Dort liegt er und ich plage mich hier herum mit dem einen. Wenn das nicht zum Lachen ist, was denn sonst? Den hat mir eine Kugel weggerissen. Aber davon versteht ihr nichts. Oder, versteht ihr das, warum die Leute einander die Arme wegschießen und die Füße, und einander totschießen? Ich meine, Leute, die gar nichts von einander wissen, bloß so von Weitem her; bloß weil ihnen das einer befiehlt? He, versteht ihr das?“
Nein, das verstanden sie nicht. Musik wollten sie hören; das andere, das war ihnen eine dunkle Sache. Arme und Beine wegschießen? Sie waren noch nicht sehr lang in der Gegend, das will sagen, auf der Welt. Es war da noch sehr viel Fremdes, das sie noch nicht kannten.
„Ja so,“ sagte der Invalide. „Ja so, ja, ihr krieget noch ein Lied da heraus; heißt das, das Mädel kriegt eins. Du kannst dich in ein Mausloch hinein schämen, Bub, daß du dich hinstellst und heulst. So, angefangen. Aufgepaßt.“
Da drehte er seinen Handgriff herum und drehte ein Lied heraus. Noch eins. „So, das gefällt euch wohl?“ sagte er, als die Beiden horchten, wie die Mäuse. Sie nickten nur. Es war wohl jetzt unwiderbringlich zu Ende? Denn der Invalide stand auf und hängte sich seinen Kasten um.
„Da müßt ihr eben sehen, daß ihrs auch einmal so weit bringet, als ich,“ sagte er. „Das ist ein feines Leben, das könnt ihr glauben. Seht ihrs, ich habe die Taschen voll Brot. Was will man mehr? So weit könnt ihrs auch bringen.“
„Wir haben daheim den ganzen Laden voll Brot und Wecken,“ sagte der Bub, „und noch Feinbackwerk, so viel, daß mans gar nicht zählen kann.“ Er hatte einen gewaltigen Anlauf dazu genommen, um auch etwas Rechtes zu sagen; da schoß er übers Ziel hinaus und protzte. Das hatte er nicht beabsichtigt.
„Aber ich will auch Musik machen, wann ich groß bin, und dann mach ich so viel Musik, den ganzen Tag, und hör’ nicht immer gleich auf, wie du. Bis ich genug habe, so lang spiel’ ich.“ Da wurde er wieder rot. Denn der Orgelmann sah ihn so spöttisch an, daß er in seine vorige Verlegenheit zurückfiel.
„So,“ sagte er. „Aha. Da ißt du dich zuerst dicksatt und dann, wenn du noch kannst, dann kommt die Musik dran. Aha. Da setzst du dich wohl an den Backofen dazu? Bis du genug hast, so lang tust du das alles? Du Teigprotz.“
Ganz erstaunt sahen ihn die Kinder an. Da kam solch ein verbissener Grimm heraus. Sie faßten einander an der Hand. Sie verstanden nicht, daß behagliche Sattheit und ein geruhlicher Sitz in der Ofenwärme dem landfahrenden Mann ein Paradies war, in das er nie gelangen konnte, und daß seine Grobheit unwillige Bewunderung des Versagten sei. Es paßte nicht zu dem lustigen Gesicht, das der Invalid den ganzen Morgen gemacht hatte. Es war wie einer der schrillen, gellenden Nebenaustöne, die seine Orgel oft mitten in eine heitere Melodie hineinwarf. Aber die Kinder verstanden diesen Ton aus einer fremden, düsteren Welt nicht. Sie kehrten still um und ließen ihre Hände ineinander und sahen sich nur noch einmal schüchtern nach dem Mann um, wie er davonstapfte zwischen den hellbegrünten Hecken und immer noch den Kopf schüttelte und einmal mit dem Fuß aufstieß, daß der Kasten schütterte.
„So, jetzt laß ihn,“ sagte Gertrud, da der Bub blaß und still neben ihr hertrottete. „Jetzt gehen wir heim; meine Großmutter wartet. Hast du auch eine Großmutter? Dann sagst du’s ihr, das von dem Mann.“
„Nein,“ sagte er; „eine Großmutter? Nein.“
Er war kein Prahlhans. Es war ein schüchternes Kind, und hatte allen Mut zusammengenommen, um sich auch an der Unterhaltung zu beteiligen. Die Musik und das kecke kleine Mädchen hatten ihn so kühn gemacht. Nun war er gewaltig aus dem Sattel geworfen.
„Aber einen Großvater, das hast du doch?“ sagte Gertrud. Sie sagte es sehr eindringlich, denn es war ihr unbehaglich, zu fühlen, daß solch etwas durchaus Nötiges in irgend einem Leben fehle.
„Nein,“ sagte der Bub noch einmal. „Einmal, da habe ich einen gehabt, aber das ist schon lang. Da war ich noch ganz klein. Der ist gestorben.“ Es war eine durchaus kühle Mitteilung.
„Hm,“ sagte Gertrud, (das hatte sie von dem Rektor Cabisius aufgeschnappt), „gerade wie mein Vater und meine Mutter. Die sind auch gestorben, wie ich noch klein war. Sie sind im Himmel. Meine Großmutter hat’s gesagt.“
Und auch das war ohne Trauer ausgesprochen. Es fehlten zwei gute, starke Ringe an der Kette, die das Kind mit dem Leben verband. Aber es war darum nicht in steuerlosem Nachen auf der See, es war nur um so fester an das vorige Glied angebunden.
Die zwei Alten standen unter der Gartentür, als die Kinder herankamen, denn der Rektor war inzwischen aus der Schule heimgekommen, und nun mußte er mitanhören, daß das Kind anfange, auszureißen und daß er wohl ein wenig Schuld daran sei. Das Keckliche, Ungebundene, sagte die Großmutter, das habe es von ihm. Und er ließ das über sich ergehen mit seinem guten, stillen Lächeln. Da kam die Erwartete um die Ecke und zog den kleinen Buben mit sich. „Großvater,“ sagte sie, „du mußt ihm auch noch Musik machen, noch schönere, als der Orgelmann. Er hat keinen Großvater und niemand.“
„Was?“ sagte der Rektor, „niemand? Bist du nicht ein kleiner Ehrensperger? Gehörst du nicht dem Bäcker drüben am Marktplatz? Was faselst du da, Gertrud?“
Da trat seine Frau dazwischen. „Nein, laß nur, Mann,“ sagte sie, und war ganz Güte und Mütterlichkeit, „es ist doch ein armes Kind, das weiß ich. Er hat eine Mutter und doch keine. Er hat nicht umsonst solch ein freudloses Gesicht.“
Wißt ihr, wie das ist mit der Liebe? Das ist wie mit dem Apfelbaum im Garten der Frau Holle, der stand und rief: „Pflücke mich, pflücke mich, meine Äpfel sind alle miteinander reif,“ und als das Kind kam und anstieß, da rollte ihm der schwere Segen in den Schoß.
So schwer von Reichtum und Früchtesegen steht ein liebereiches Herz, und wartet, ob nicht irgend eine Leere sei, in die es seine Fülle gießen könne, und ist noch dankbar und froh, daß es wieder Raum gewinnt zu neuen Trieben. Sie hatten schon so vieles aus ihrem Leben hingegeben, das sich hatte von ihnen lieben lassen, die beiden alten, jungen Leute. Und da noch quellendes Leben in ihnen war, das lieben mußte, so kam das den anderen zugute.
Ich will nicht hoffen, daß irgend jemand absprechend den Kopf schüttelt, wann von dem warmen, weiten Herzen der Frau Rektorin die Rede ist. Etwa, weil er ihr den kleinen Hochmutsanfall vom vorigen Kapitel stark ins Wachs gedrückt hat. Trug nicht der große, alte Zwetschgenbaum in meiner Großmutter Garten alljährlich außer den süßen Früchten eine Anzahl aus der Art geschlagener merkwürdiger Knorpeln, die wir „Zwetschgennarren“ nannten? Und verspeisten wir diese säuerlichen Dinger nicht mit besonderem Behagen als eine heitere Merkwürdigkeit des Alten, um uns nachher mit umso größerer Lust an die Erzeugnisse seiner besten, süßesten Säfte zu machen?
Lächelte nicht ihr Gemahl selbst sein helles, humorvolles Lächeln zu ihren kleinen Schwächen? Und traute er ihr nicht darum doch das Beste, Reichste zu, das in dem fruchtbaren Boden eines liebreichen Herzens gedeihen kann?
Er aber mußte es doch wohl wissen.
So wunderte er sich denn auch gar nicht, daß sie den kleinen Georg von diesem Tag an ins Herz schloß, und ihm eine Heimat darin schuf. Das begab sich ganz von selbst, es war weiter nicht die Rede davon.