Lore saß ganz still. Die beiden andern waren hier so zu Hause, das konnte sie wohl sehen, sie aber fühlte sich fremd und scheu in ihrem Putz und ihrer ganzen Art. Die Mutter hatte sie heut früh vor den Spiegel gestellt. „Herzig siehst du aus,“ hatte sie gesagt, und noch anderes. Von der Zukunft, und daß Schönheit ein Reichtum sei. Jetzt hätte sie gern den Staatsmantel ausgezogen, wenn nicht darunter ein zerrissenes Werktagskleidchen gewesen wäre.
Da strich ihr plötzlich eine große, weiche Hand sacht und leise über das Haar. Sie duckte sich wie ein Vögelchen unter der ungewohnten Berührung. „Ich kenn’ dich schon, du Kleines,“ sagte Frau Judith. „Bist noch nie bei mir gewesen, gelt. Aber ich kenn’ dich doch. Ich tu’ dir nichts, mußt dich nicht so ducken.“ Und Georg und Gertrud nickten ihr zu: „Sie tut dir nichts, natürlich nicht; mußt dich nicht so ducken,“ sagten ihre Gesichter. Da fing sie plötzlich an zu lachen, und lachte und lachte, und hielt sich die Hände vors Gesicht und die Locken fielen ihr drüber her. Und kein Mensch wußte, warum sie lachte, und sie fragten und fragten, und lachten endlich mit und wußten auch nicht, warum, und als Frau Judith ihr die Hände vom Gesicht zog, da waren sie naß, über und über.
„Behüt uns,“ sagte Frau Judith leise, und dann fing sie an, zu erzählen, was sie von ihrem Fenster aus gesehen habe all’ die Zeit daher.
Sie kam nie mehr hinunter, seit sie ein hölzernes Bein und eine Krücke hatte, das war schon 10 Jahre her. Meister Nössel war ihr Bruder. Er hatte sie sich da herauf geholt, nachdem man ihr im Krankenhaus das Bein abgenommen hatte. „Und das ist ein solches Stück Arbeit gewesen,“ sagte sie und meinte nicht ihr Unglück, sondern die Reise auf den Turm, daß ich nun hier oben bleibe, bis mich einmal die schwarzen Männer holen. Es sei denn, fügte sie hinzu, „der Turm falle vorher ein, was aber nicht wahrscheinlich ist. Da käme ich dann freilich schneller hinunter als ein Vogel fliegt.“ Sie war in diesen Jahren und bei der sitzenden Lebensweise ungeheuer in die Dicke und Breite gegangen und es war ein gruselig machender Genuß, sich auszudenken, wie das alles vor sich ging. Es war alles, wie im Märchen; man konnte nie wissen, was mit Frau Judith geschah und mit dem Meister Nössel und mit dem ganzen Turm. Unten auf ebener Erde, da ging alles seinen nüchternen Gang. Aber hier oben, es war nicht auszusagen, was man hier oben alles erleben konnte. „Ja,“ sagte Frau Judith, „und darum möchte ich auch nicht für Geld und einen neuen Fuß wieder in die Unruhe da hinunter, wo man nicht weiter sieht, als bis an die nächste Mauer. Wenn man nun zehn Jahre hinter einander hat am heiligen Abend die Christbäume im Himmel brennen sehen. Ja, im Himmel, und das ist sicher, denn von hier aus sieht man mitten hinein, wenn man rechte Augen hat und die Zeit nicht verpaßt, wo er offen ist.“
Daran war nicht zu zweifeln. Und wenn auch Gertrud hie und da den klugen Kopf schüttelte, im Grunde glaubte sie es doch. Um es recht zu sagen: es war wie im Märchen vom unsichtbaren Königreich. Die Königin ging an Krücken und kochte mühselig in irdenen Töpfen im Ofen, und der König war ein zusammengesessenes Männlein und flickte den Leuten die Hosen. Und die meisten Leute wußten nicht, daß sie ein Land hatten und ein Reich. Aber das tat nichts zur Sache. Das konnten die Leute halten, wie sie wollten. Man konnte daran nur sehen, daß sie nicht desselben Landes waren. Die beiden wußten es selber und das war die Hauptsache. Der Rektor Cabisius wußte es auch, und seine Frau, und der alte Korbmacher Hollermann. Und die Kinder, die fast am besten, obgleich sie keinen Namen dafür hatten.
Da saß denn die Frau Judith Tag für Tag an ihrem Fenster und nähte. Und dann kam die Sonne herauf und lachte, übers ganze Gesicht, zu ihr herein, und dasselbe tat Frau Judith, zu ihr hinaus. Und die Spatzen kamen, die ihr Nest an der Dachrinne hatten, und die Schwalben strichen hin und her und schwatzten von ihren Erlebnissen, und im Winter, wenn sie fort waren, hockten doch die Raben flügelschlagend auf dem Dach und holten sich mit Geschrei die Brocken, die ihnen Frau Judith zuwarf. Zuweilen kam eine große, schwarze Katze und guckte mit blanken, grünen Augen ins Fenster und machte einen Buckel und stellte den Schwanz in die Höhe. Und alle diese Geschöpfe wußten so viel zu erzählen, von den Leuten im Städtlein unten weniger, aber sonst eine ganze Menge wunderbarer Sachen, und das taten sie sonst niemanden, als nur der Frau Judith und etwa, der Verwandtschaft halber, ihrem Bruder; und daran „konnte man es mit Pelzhandschuhen greifen“, wie der Rektor Cabisius sagte, „daß etwas Besonderes an ihnen sei.“ Am Abend war es noch viel wunderbarer. Da kam der Mond und füllte die Stube bis in den letzten Winkel mit seinem Licht, „und,“ sagte Frau Judith, „wenn wir noch eine zweite hätten, dann bekämen wir die auch noch voll, aber wir haben nur die eine, und das ist gerade gut, denn dann haben wir alles näher beieinander.“ (Es war fast alles „gerade gut“, und das sei das königlichste an der Frau Judith, sagte ihr alter Freund, der Rektor, und da er sie so genau kannte, so mußte er es ja auch wissen.)
Da glänzte dann die ganze Gegend in einem silbernen Schimmer, das ganze Tal war wie ein leise wallendes Meer von geheimnisvollen, verhaltenen Lichtfluten; das Städtlein und die Wiesen und Berge und Wälder, alles ruhte auf dem klaren Grund und die Flut ging hoch darüber hin. „Und da ist es denn, als sollte man mitschwimmen,“ sagte Frau Judith zu den Kindern, „zum Fenster hinaus und ganz weich und sachte durch die Luft, nicht fliegen, schwimmen. Aber seht ihr, ich bin zu schwer dazu, das ist der einzige Grund, warum ich’s nicht tue. Aber das kommt noch.“ Und die Kinder horchten, mit großen Augen sahen sie in Frau Judiths Gesicht. Ja, die war freilich anders, als andere Leute. Man konnte nie wissen, was mit ihr noch geschehe. Sie wußten auch wohl, daß oben, ganz weit oben über den Wolken der liebe Gott sitze und, Meister Nössel hatte es gesagt, direkt durch die Fenster hier in die Stube sehe, da man sich denn freilich wohl in acht nehmen müsse, daß alles mit Ehren zugehe, weil man ihm ja doch nicht unter die Augen treten möchte mit irgend einer zweifelhaften Sache.
Ob denn, fragte Georg einmal, der liebe Gott auch in die Taschen sehe? Es war ihm nicht recht behaglich dabei, das konnte man ihm ansehen. „Natürlich,“ sagte Meister Nössel, „in die Taschen, und durch und durch.“ Da drückte sich der Bub so an der Wand hin und suchte mit guter Manier zur Tür hinaus zu kommen, und polterte die Treppen hinunter, daß er sich fast überschlagen hätte. Unten aber auf dem Kirchplatz gab er Kindern und Hunden ein Fest mit zerdrückten, verkrümmelten Eierwecken, die er sich aus der Backstube gemaust hatte und die ihm plötzlich die Taschen verbrennen wollten. Es war ihm noch nicht so ganz wohl dabei, er hätte sie am liebsten wieder nach Haus getragen. Aber wer konnte sie so noch gebrauchen? Auch war niemand da, bei dem man eine Lossprechung von dem unbehaglichen Gefühl erhoffen konnte, das sich da auf einmal eingestellt hatte. Da mußte es denn auch so gehen. Er kehrte die Taschen um, daß der liebe Gott so recht deutlich sehen konnte, es sei nichts unrechtes mehr darin, und dann ließ er sie fröhlich heraushängen und erstieg neuerdings die Höhe mit verhältnismäßig gereinigtem Gewissen.
Meister Nössel schien nichts gemerkt zu haben. Er saß auf seinem Tisch und flickte einen Arbeitskittel, und als das geschehen war, putzte er noch die Flecken heraus, mit Wasser und grüner Seife, und bügelte die Runzeln glatt, und es war nichts zu verbergen, in der ganzen Stube nicht. Und das war eine so fröhliche Sache, daß man den lieben Gott wohl einladen konnte, zuzusehen. Meister Nössel aber blinzelte zu Frau Judith hinüber, und sie zu ihm. Und er nahm die Brille ab, deren er nur in der Nähe bedurfte, und sah mit hellen Augen über sein Königreich hin. Das reichte, so weit man sehen konnte, und noch weiter, und die Beiden nahmen es niemanden weg und niemand hatte einen Schaden davon. Denn es war ihnen alles zu eigen, weil sie sich an allem zu erfreuen vermochten. Und sie „fülleten die Erde und machten sie sich untertan“ mit ihren stillen und fröhlichen Gedanken; und alle guten Geister halfen ihnen dazu.
Viertes Kapitel