Dem Jungen gefiel es nicht übel bei diesem Zustand der Welt. Er ließ sich auf die Nase schneien und pfiff dazu vor sich hin. Über ihm baumelte an einem eisernen Haken die große, goldene Bretzel, die das Abzeichen des Hauses war. Der Wind spielte mit ihr und sie knarrte beim Hin- und Herschwanken wie ein ungeöltes Wagenrad. Er hieß Franz Ehrensperger und sein Vater hieß auch so, und vor ihm hatte dessen Vater und Großvater auch so geheißen. Und über ihnen allen hatte die goldene Bretzel gebaumelt und im Winde geknarrt und sie war von jeder neuen Generation frisch vergoldet worden. Die Ehrensperger hatten es dazu. Sie hatten von jeher ihr Brot zu backen gewußt, wie es sich gehörte und ihre Mitbürger erkannten das auch an. Es war zu erwarten, daß auch Franz der Junge in späteren Jahren die Bretzel neu vergolden würde; es lag gar kein Grund vor, etwas anderes anzunehmen.
Und so konnte er an diesem Neujahrsmorgen wohl mit Seelenruhe ins Wetter schauen und, wenn ihm die erfreuliche Gegenwart nicht genügte, auch in eine erfreuliche Zukunft blicken, die wie eine weiße, saubere, wohlgeebnete Landstraße vor ihm lag und an der es freundliche Rastorte zur Rechten und zur Linken gab.
Es ist nicht gesagt, daß er es getan habe. Der Erbe des Hauses Ehrensperger war nicht so veranlagt, daß er allzuweit in die Ferne gesehen hätte und mit neun Jahren pflegt man das auch nicht zu tun. Jungfer Liese tat es für ihn; und sie tat es mit Wohlgefallen, mit innerlichem Schmunzeln. Sie stand hinter dem Ladentisch und verkaufte die Neujahrsbretzeln und legte den honorigen Kunden noch eine extra obendrauf zusamt dem Prosit Neujahr, das sie mit wohlwollend zugespitztem Munde im Namen der Firma aussprach. Und lächelte breit und sonnig, wann die Kundschaft ebenfalls ihre Glückwünsche hergab und legte sie alle säuberlich auf die Seite, einen zum andern, nicht für sich, behüte, für das Haus, und für den Franz besonders. Es war eine stattliche Anzahl von Bretzeln, die sie verkauft, und von Glückwünschen, die sie eingeheimst hatte, Jungfer Liese konnte schon mit Behagen um sich blicken. Drinnen in der Ladenstube saß Franz Ehrensperger, der Ältere, und hielt einen kleinen Nicker im Großvaterstuhl. Das runde Haupt mit dem Doppelkinn ruhte auf dem Brustlatz der weißen Schürze, die Hände waren auf dem stattlichen Bauch gefaltet, er drehte noch halb im Traum die Daumen umeinander, dann hörte auch diese Bewegung auf. Über ihm an der blauen Tapetenwand hingen ein paar Öldruckbilder, ein Ritter und ein Edelfräulein; sie sahen einander mit feurigen Blicken an. Der Mann unter ihnen schlief in Gelassenheit und Jungfer Liese sah ihm durch das Guckfenster in der Zwischentür zu, es war ihr erbaulich zu Mute.
Sie war vor zwei Jahren ins Haus gekommen, eine arme Base des Hausherrn, aus einem ärmlichen, mageren Leben heraus, selbst ein leibarmes Persönchen, das, wie der Herr Vetter in einer scherzhaften Stunde sagte, „wohl hätte eine Gais zwischen den Hörnern küssen können.“ Seither war ihr außer einigen Anfängen zur körperlichen Rundung ein unbegrenzter Respekt gegen alles, was nahrhaft, wohlhabend und stattlich aussah, angewachsen. Sie bewegte sich ehrfürchtig zwischen den Mehlsäcken und Brotschränken des Hauses und wenn sie mit dem Inhalt der ledernen Geldtasche klimperte, so tat sie es verstohlen und mit Furcht vor böser Hoffart.
Es stolperte etwas die Treppe vom Oberstock herunter und dann kam ein kleiner Ehrensperger herein, der jüngere Sohn des Hauses. Er hieß Georg und seine Zukunft war noch nicht so über jeden Zweifel hinaus klar und sichergestellt wie die seines Bruders. Es hatte noch Zeit dazu, denn er war erst acht Jahre alt, aber das hinderte Jungfer Liese nicht, ihn zuweilen mit einigem Mitleid zu betrachten, weil er ja doch später einmal ins Leben hinaus mußte, Gott mochte wissen, wohin. Inzwischen tat sie ihre Pflicht an ihm. Es wäre ein anderer Grund zum Mitleid vorhanden gewesen, da nämlich die Mutter der Kinder seit Jahren fern von ihrer Familie in einer Anstalt lebte und kaum eine Aussicht war, daß sie je wieder einmal gesunden Geistes zu den Ihrigen zurückkehre. „Aber,“ sagte diese ihre Stellvertreterin, wenn die Rede drauf kam, „ein Kreuz ist ein Kreuz, der Herr Vetter muß es tragen, und er trägt es auch, das muß man ihm lassen. Die Kinder vermissen nichts. Denn erstens sind sie zu jung dazu, und zweitens bin ich da.“ Und sie spitzte den Mund zu einem bescheidenen Lächeln und schluckte alles Lobenswerte, das sie über sich selbst zu sagen gehabt hätte, hinunter, doch so, daß es der Beschauer wenigstens ahnen konnte. Georg wollte durch den Laden eilfertig ins Freie entwischen. Aber seine Ziehmutter hatte erst noch Pflichten an ihm auszuüben. „Halt,“ sagte sie und faßte ihn am Grips, „an diesem heiligen Neujahrsmorgen willst du mit Mehl am Ärmel und einem solchen Strobelkopf hinaus? Und in der Küche bist du mir gewesen und hast einen Rußfleck am Kinn.“ Und sie begann ihn zu säubern und zu bürsten, und machte des Rußflecks halber ihren Schürzenzipfel auf sehr natürliche Art feucht. Der Junge tat borstig, wie ein Igel, aber das half nichts, er mußte aushalten. „So,“ sagte Jungfer Liese und gab dem aufrechtstehenden Haar des Buben noch einen Strich nach hinten, „so, jetzt bist du sauber, um und um. Paß’ auf, verlier’ dein Sacktuch nicht wieder, wie gestern. Und ungebetet kommst du mir auch nicht hinaus. Das walte Gott der Vater und der Sohn und der heilige Geist. So leg’ doch die Hände zusammen, Bub’, es hat keine Art, dazu mit den Füßen zu trippeln.“
Es ist betrüblich zu sagen, aber Georg lief ihr unter den Händen weg, eh’ sie noch Zeit gefunden hatte, ihre Ermahnung zu beendigen.
Draußen rief eine helle Stimme seinen Namen. Da tat er einen Ruck und schlüpfte hinaus. Jungfer Liese stand und schüttelte den Kopf, und mit ihr schüttelt ihn vielleicht mancher, der es liest.
Und es ist nur zu hoffen, daß wir zu einer anderen Zeit erfahren, daß noch allerlei Gutes in dieses junge Leben hereinkam, dem es nicht unter den Händen weglief, und daß sich noch andere Hände fanden als die der braven Jungfer Liese, um es ihm darzureichen. Denn es war nicht jedermanns Meinung gleich der ihrigen, daß die Kinder der traurigen Frau, deren Geist hinter schweren Riegeln saß, keinerlei Mangel an irgend einem Gut aufzuweisen hätten.
„Georg,“ rief es noch einmal, „komm schnell, sonst kommen wir zu spät zum Läuten, es muß gleich anfangen.“
„Natürlich,“ sagte Jungfer Liese hinter ihrer Ladentür, „natürlich, ist mir doch das Mädchen, die Gertrud, schon wieder auf der Gasse, und stapft durch den Schnee wie ein Storch, in ihren roten Strümpfen. Und Röcke bis an die Knie, und alles fliegt an ihr, das Haar am meisten. Behüt’ mich. Wenn ich ihre Großmutter wär’.“ Es verlautete auch diesmal nicht alles, was sie zu sagen hatte, vielleicht versagte ihr die Phantasie, wann sie versuchte, sich an die Stelle der Frau Rektorin Cabisius zu versetzen.
Drittes Kapitel
Inzwischen ging die Jugend ihrer Wege und überließ das Alter seinen Betrachtungen.
Es führte eine steile, schmale Gasse gleich hinter dem Bäckerhaus in die sogenannte alte Stadt hinunter, in der die Kirche stand, ein schmuckloses, nüchternes, weißgetünchtes Bauwerk, an dem nur der Turm bemerkenswert war, der, eine viereckige, trotzige Masse, hoch, frei und stark aufstieg und über die nah herangebauten Häuser hinwegragte, wie ein großer Mann über die Menge der Durchschnittsmenschen. Auf der Höhe dieses Turmes, gleich über den Glocken, hauste der Nacht- und Feuerwächter Nössel, der auch zugleich Flickschneider war. Er hatte mehr als die Hälfte seines Lebens dort oben zugebracht. Jetzt war er ein alter Mann. Aber immer noch stieg er zweimal in der Woche seine hundertundfünfzig Treppenstufen hinunter, um die geflickten Gewänder an ihren Ort zu bringen und neue Schäden zur Heilung mit sich hinauf zu nehmen.
Wann er schlief, wußte man nicht so recht. Die Mitbürger hörten, sofern sie nicht im Schlafe lagen, mit Behagen sein halbstündliches, hellbimmelndes Glockenzeichen durch die Nacht klingen und zogen sich getrost die Decke über die Ohren, da ja außer dem Herrn im Himmel auch noch der alte Nössel auf dem Turm über die Sicherheit der Stadt wachte. Am Werktag flickte er die Löcher, die der Kampf ums Dasein in die Gewänder riß, und außerdem besorgte er an Sonn- und Feiertagen und zu den Betzeiten das Läuten der Glocken. Er saß nie unter den Andächtigen in der Kirche, sondern blieb in der Höhe bei den Glocken und streckte seinen grauen Kopf durch ein Mauerloch, das eigens zu diesem Zweck ausgehauen war, fast an der Decke des Kirchenschiffs, der Gemeinde und dem Pfarrer entgegen. Begann der letztere dann das Vaterunser, so verschwand, zur großen Befriedigung der Schuljugend,