Der Kulturphilosoph Egon Friedell (*1878; †1938) kritisiert mit Recht die Arroganz der Spanier. In seinem geradezu legendären Werk »Kulturgeschichte der Neuzeit« (2) schreibt er: »Als Hernando Cortez im Jahre 1519 den Boden Mexikos betrat, fand er eine hochentwickelte, ja überentwickelte Kultur vor, die der europäischen weit überlegen war; als Weißer und Katholik, verblendet durch den doppelten Größenwahn seiner Religion und seiner Rasse, vermochte er sich jedoch nicht zu dem Gedanken erheben, dass Wesen von anderer Weltanschauung und Hautfarbe ihm auch nur ebenbürtig waren. Es ist tragisch und grotesk, mit welchem Dünkel diese Spanier, Angehörige der brutalsten, abergläubischen und ungebildetsten Nation ihres Weltteils, eine Kultur betrachteten, der Grundlage sie nicht einmal ahnen konnten.«
Die Kukulkan-Pyramide beeindruckt nicht durch monumentale Wuchtigkeit, sondern durch schlichte Eleganz und Leichtigkeit. Was mögen die Priesterarchitekten dem sakralen Bauwerk der Mayas an Wissen anvertraut haben? Haben wir schon das im Stein verewigte Wissen schon vollständig entschlüsselt? Das wage ich zu bezweifeln. Fakt ist: Das Bauwerk des Kukulkan besteht aus neun Plattformen. Vier Treppen führen nach oben zum Kukulkan-Tempel. Insgesamt sind es 364 Stufen. Eine 365. Stufe gewährt Zutritt zum Tempel, zwei Säulen säumen den Eingang. Gefiederte Schlangen sind zu erkennen.
Jede Treppenstufe steht für einen Tag. 365 Treppenstufen entsprechen exakt der Dauer eines Jahres von 365 Tagen. Die Mayas waren geradezu besessene Astronomen. Sie beobachteten die Planeten und Sterne. Über Jahrhunderte hinweg notierten sie die Ergebnisse ihrer präzisen Beobachtungen. Sie erkannten das Gesetz der ewigen Wiederkehr. Die Zeit, das wussten die Mayas – und das war die Grundaussage ihrer Philosophie – besteht aus sich ewig wiederholenden Zyklen: seit Anbeginn des Universums drehen sie sich wie die Räder eines genial entworfenen Mechanismus.
Die Mayas haben ohne Zweifel ihre Erkenntnisse in unzähligen Codices verewigt. Die aber wurden von den barbarischen Eroberern mit Enthusiasmus gesammelt und in gewaltigen Feuern verbrannt. Erhalten geblieben ist ein astronomisches Werk in Stein: die Pyramide des Kukulkan! Alle Jahre wieder bietet sie so etwas wie einen Film, eine »Lichtshow«... mit der Präzision eines Uhrwerks: immer am 21. März und am 21. September kriecht Gott Kukulkan als Schlange aus Licht vom Himmel herab und verschwindet wieder ins Himmelreich.
Damit dieses Phänomen Jahr für Jahr pünktlich zu den Sonnwendfeiern an 21. März und am 21. September sichtbar werden konnte, waren umfangreichste Berechnungen und präzise Entwürfe erforderlich. Die Kukulkan-Pyramide musste millimetergenau platziert werden, sonst würde nicht seit Jahrhunderten Sonnenlicht und Schatten eine Schlange vom Himmel steigen und wieder entschwinden lassen.
Im Schatten – die Schlange aus Licht
Ich habe diesen »Film« mit einigen Tausend anderen Besuchern am 21. März gesehen. Schon am Morgen hatte ich mich eingefunden. Erst gut anderthalb Stunden vor dem Sonnenuntergang ging es los: die Sonne leuchtete die dem Westen zugeneigte Pyramidenfläche an. Wie unzählige Kegel von Taschenlampen projizieren die Sonnenstrahlen Licht auf die nördliche Pyramidenfront. Dreiecke aus Licht entstehen, wandern von der Spitze der Pyramide nach unten. Ein Schlangenkopf taucht aus dem Schatten auf.
Deutlich ist der Leib der zur Erde kriechende Schlange zu erkennen, von der Schwanzspitze bis zum geöffneten Maul. Die Schlange vollendet ihre Reise: aus dem All zur Erde. Dies geschieht alljährlich am 21. März. Und alljährlich am 21. September kehrt sie wieder in die unendlichen Weiten des Alls zurück!
Worte vermögen den Zauber nicht wirklich zutreffend beschreiben. Es ist ein Mysterium aus Stein, Licht und Schatten… wie vor den Augen des Betrachters eine Schlange aus Licht entsteht, die sich mit ihrem mächtigen Kopf aus massivem Stein am Boden vereint.
Astronomische Kenntnisse waren Voraussetzung... ebenso wie perfekte Baukunst! Und Astronomen der Extraklasse waren sie, die Mayas! Über viele Jahrhunderte beobachteten sie Sterne und Planeten. Sie verfügten in Chichén Itzá über ein perfektes Observatorium!
In Chichén Itzá gab es auch eine »Kirche« der Stern- und Planetenforscher. Das Kultgebäude heißt heute »Caracol«, zu Deutsch »Schneckenhaus« oder »Schneckenturm«. Wie es bei den Mayas hieß, das weiß heute niemand mehr zu sagen. Deutlich ist der Zweck des Bauwerks zu erkennen: Es war ein Observatorium. Der Name ist leicht erklärt: Im Inneren führt eine Wendeltreppe bis zur höchsten Stufe. Schon aus einiger Distanz fällt die ungewöhnliche Kuppel des astronomisch-sakralen Denkmals auf.
Auf drei Stufen erhebt sich das Gebäude an der idealen Stelle in der Stadt. Die Maya-Astronomen hatten den perfekten Blick auf die Venus, die sie studierten. Auch Sonnenbeobachtungen wurden mit wissenschaftlicher Akribie durchgeführt. Leider nagte der Zahn der Zeit über die Jahrhunderte am »Caracol«, der aber nichts von seiner majestätischen Aura eingebüßt hat. Leider lässt sich die Ruine nicht mehr exakt genug rekonstruieren. So kann so manches Maß von astronomischer Bedeutung nicht mehr erkannt werden. Und die Manuskripte der Astronomen, die es gegeben haben muss, wurden wohl von den Spaniern mit Eifer verbrannt. Oder ruhen sie noch irgendwo in geheimen Verstecken, die die Plünderer übersehen haben?
Trotzdem muss man auch heute über die Präzision der Baumeister der Mayas staunen. Der Grundriss des Caracol hat ein Seitenverhältnis von 5 zu 8. Auf den ersten Blick scheint das nicht weiter ungewöhnlich zu sein. Doch entspricht diese Relation exakt dem Verhältnis der Umlaufzeiten von Erde und Venus, 365 zu 584. Wie viele astronomische Daten mögen wohl einst in das Maya-Observatorium eingeflossen sein? Fest steht:
Durch kleine Fensterchen und Luken wurden wichtige Sterne angepeilt. Planeten wurden beobachtet. Ergebnisse wurden notiert. Die Mayas wollten dem Geheimnis des Universums auf die Spur kommen. Sie wollten eruieren, nach welchem Plan sich Sterne und Planeten bewegen.
Die Mayas verfügten über enormes astronomisches Wissen. Sie versuchten Gesetzmäßigkeiten im Zusammenspiel der kosmischen Körper zu erkennen. Hinter den Planeten und Sternen vermuteten sie einen intelligenten Plan.
Zurück zur Pyramide von Kukulkan und der Schlange aus Licht. Das Phänomen lockt auch heute noch Tausende von Maya-Nachkommen, aber auch Touristen, an. Die Schlange, geformt aus Licht und Schatten, wandert von der obersten Tempelplattform nach unten. Sie ringelt sich die steilen Pyramidenstufen hinab und kehrt auch wieder nach oben zurück.
Schlangenkopf am Fuß der Pyramide
Wer sich einen guten Platz ergattern möchte, sollte schon frühmorgens bei der Kukulkan-Pyramide erscheinen. Denn bald schon setzt der Massenansturm ein. Das weitläufige Areal wird förmlich von Menschen überflutet, sehr zum Ärger der katholischen Kirche! Wird doch auf diese Weise – unwissentlich oder nicht – ein uralter Kult der Mayas, die Anbetung der Schlange, die vom Himmel kommt, fortgeführt. Es empfiehlt sich, sich möglichst nah bei den Ruinen eine Unterkunft zu suchen. Auf diese Weise kann man schon frühmorgens die Ruinenanlage betreten, ohne störende Besuchermassen Pyramide, Observatorium, Tempel und Opferbrunnen auf sich wirken lassen.
Im »Buch der Jaguar-Priester« heißt es: »Sie (die Götter, Ergänzung des Verfassers) stiegen von der Straße der Sterne hernieder. Sie sprachen die magische Sprache der Sterne des Himmels. Ihr Zeichen ist unsere Gewissheit, dass sie vom Himmel kamen. Und wenn sie wieder herniedersteigen, dann werden sie neu ordnen, was sie einst schufen.«
Nach Jahrzehnten des Forschens bin ich davon überzeugt: Die Mayas sahen den Ablauf der Geschichte des Universums als ewige Wiederkehr von Zeit-Zyklen. Sie rechneten in astronomischen Zahlen. Sie überblickten wahre Zeitmeere, die sich kein Mensch vorstellen kann. Sie maßen Zeitenläufe nach