Nach Damasio haben Vorstellungen, und damit auch bewertete Vorstellungen unterschiedliche Bewusstseinsstufen. Man kann unterscheiden:
● bewusste Vorstellungen,
● bewusstseinsfähige, aber nicht beachtete Vorstellungen,
● verdrängte, nicht im Bewusstsein gewünschte Vorstellungen und
● steuernde, aber nicht bewusstseinsfähige Vorstellungen (z. B. solche, die die Körperfunktionen regulieren).
Wenn wir gefragt werden, warum wir etwas getan haben, so haben wir in der Regel keine Schwierigkeiten, vernünftige, wenn auch oft subjektive Gründe anzugeben, die unsere Taten rechtfertigen oder zumindest „verständlich“ erscheinen lassen. Wir bilden uns ein, dass wir hinsichtlich dieser Gründe frei entscheiden können und daher Gestalter unseres Verhaltens sind.
Sigmund Freud, aber auch viele seiner Anhänger und Nachfolger, wie z. B. Carl G. Jung, Ernest Dichter und andere, haben schon vor vielen Jahrzehnten nachgewiesen, dass das ein Irrtum ist und dass uns oft unsere eigentlichen Motive nicht bewusst sind. Ein Experiment mit Hypnose kann als eindringlichster Beweis für diese Behauptung gelten: Wenn einem Menschen in Hypnose etwa der Befehl gegeben wird, sich um 14 Uhr die Haare zu waschen, sich aber an diesen Befehl nicht mehr erinnern soll, so tut er das pünktlich, wenn er wieder aus der Hypnose erwacht ist. Wenn man ihn dann fragt, warum er sich zu einer so ungewöhnlichen Zeit die Haare wäscht, so sagt er z. B., dass ihm bewusst geworden ist, dass er schon lange den Kopf nicht mehr gewaschen hat, oder dass ihn der Kopf gejuckt habe und er dachte, dass das von dem Schmutz kommt, der sich auf dem Kopf angesammelt hat.
Die Motive unseres Handelns sind uns aber nicht nur dann nicht bewusst, wenn wir hypnotisiert wurden. Jeder Mensch reagiert jeden Tag auf hunderte von inneren und äußeren Reizen, die ihm nicht bewusst werden. Es strömen in jeder Sekunde 11 Millionen Reize auf uns ein: Die Haut sendet uns Reize, wir hören das Ticken einer Uhr, das Summen einer Fliege oder den Verkehr in der Ferne und viele andere Geräusche, die wir als unwichtig klassifizieren und die uns daher nicht bewusst werden. Wir können pro Sekunde nur etwa 40 Informationen bewusst wahrnehmen. Wir erleben viel mehr Dinge, als uns bewusst werden können: wir kratzen uns z. B. am Kopf, wenn es juckt, ohne es zu bemerken. Wir können uns von den Milliarden von Reizen nur wenige Millionen bewusst machen. Der Rest wird zwar wahrgenommen – wir können sogar darauf reagieren –, wird uns aber nicht bewusst.
Ein weiteres Beispiel für die Funktionsweise unseres Unbewussten und die Überforderung des Bewusstseins ist ein alltägliches Gespräch: Wenn wir uns mit jemandem unterhalten, dann konzentrieren wir uns auf die Formulierung dessen, was wir ausdrücken wollen. Die Frage, welche Motive uns dazu bringen, das zu sagen, was wir sagen, bleibt im Allgemeinen unbeachtet. Wie aus vielen therapeutischen Gesprächen bekannt ist, können wir uns die eigentlichen, ehrlichen Motive unserer Sprechinhalte gar nicht so einfach bewusst machen. Aber wir senden neben den gesprochenen Worten noch viel mehr Signale an unseren Gesprächspartner. Wir zeigen eine bestimmte Mimik: unsere Augen leuchten, oder machen einen traurigen, uninteressierten oder abgelenkten Eindruck und unser Mund verrät eine Vielzahl von differenzierten Stimmungen. Unsere Körperhaltung, die Bewegung unserer Hände und unseres ganzen Körpers begleiten unser Sprechen und liefern zu den gesprochenen Inhalten zusätzliche Informationen. Es ist uns unmöglich, all diese Bereiche des Ausdrucks bewusst zu kontrollieren. Sie laufen von unbewussten Bereichen in uns gesteuert ab.
Das Gleiche gilt allerdings auch bei der Informationsaufnahme unseres Gesprächspartners. Auch er sieht alle diese Signale nicht bewusst. Er konzentriert sich auf die Inhalte, die unsere Worte ausdrücken, oder auf die Erwiderung, die er gedanklich vorbereitet. Er nimmt die vielen Hinweise, die er durch das Verhalten seines Gesprächspartners bekommt, nicht bewusst wahr. Aber er reagiert auf diese Hinweise. Wir haben z. B. häufig ein untrügliches Gefühl dafür, ob unser Gesprächspartner das Gesagte ehrlich meint. Oder wir haben ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl, bei dem was er sagt. Wir glauben ihm oder nicht, ohne uns genau darüber Rechenschaft abgeben zu können, woran wir z. B. erkennen, dass wir vorsichtig sein sollten. Unser Bewusstsein wäre einfach überfordert, wenn alle Eindrücke durch seine Instanz laufen müssten.
Nicht immer ist die Leistung unseres Unbewussten so hilfreich wie in dem gerade geschilderten Beispiel. Hin und wieder zeigt sich die Existenz unseres Unbewussten in „Fehlleistungen“, die uns in schwierige Situationen bringen. Wir „verlegen“ Dinge, die wir benötigen, uns fallen Namen von Personen nicht ein, die wir eigentlich kennen, oder wir versprechen uns und offenbaren damit unsere eigentlichen „Hintergedanken“, ohne es zu wollen.
Freud (2000), der ein ganzes Buch über die nach ihm benannten „Freud’schen Fehlleistungen“ geschrieben hat, berichtet uns von einem berühmt gewordenen Beispiel: Er war einmal um 1900 in Wien bei einer feinen Gesellschaft eingeladen und unterhielt sich beim Abendessen angeregt mit seiner Tischdame. Es ging darum, ob es für seine Akzeptanz auch bei einem Mann wichtig sei, gut auszusehen, so wie das offensichtlich für Frauen gilt. Freud meinte aus voller Überzeugung, dass das für einen Mann nicht notwendig sei, und er fügte hinzu: „Ein Mann braucht nur fünf gerade Glieder!“ Er berichtet, dass in dem Moment, in dem er das gesagt hatte, die Tischrunde auf einmal still war, und es war ihm äußerst peinlich. Natürlich wollte er „vier gerade Glieder“ sagen, das fünfte Glied war zumindest in dem Wien seiner Zeit und in feiner Gesellschaft absolut tabu.
Ein besonders interessantes „Betätigungsfeld“ unseres Unbewussten besteht darin, dass es häufig dafür sorgt, dass genau das eintritt, was wir – aus welchem Grunde auch immer – erwarten. Henry Ford, der Erfinder der Serienproduktion der nach ihm benannten Autos, hat einmal gesagt: „Ob du sagst: ‚Ich kann das‘, oder sagst: ‚Ich kann das nicht‘, du hast in jedem Fall recht.“ Wenn wir unbewusst eine bestimmte Erwartung haben, so trifft diese auch ein.
Wir bestätigen unsere Prognosen selbst, indem wir durch kleine, uns nicht bewusste, förderliche oder hinderliche Handlungen genau das erreichen, was wir erwarten. Dieses Phänomen wurde vor allem in den USA vielfältig untersucht und immer wieder bestätigt. Man spricht von der „Sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung“ („self fulfilling prophecy“). So kann man auch erklären, warum die Prognosen von Kartenlegern und anderen Wahrsagern häufig eintreffen, wenn die Betroffenen daran glauben, oder warum Menschen, die sich selbst als „Pechvogel“ bezeichnen, tatsächlich häufiger vom Pech verfolgt werden, während selbsternannte „Glücksvögel“ häufiger Glück haben.
Der Mechanismus der Sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung wurde mir an einer Geschichte deutlich, die ich in meiner Bekanntschaft erlebte.
Die Verwandlung eines Traummannes
Erika hatte den Mann ihrer Träume gefunden. Sie liebte ihn vom ersten Augenblick an. Es war nicht nur Liebe auf den ersten Blick, es war der Mann, den sich Erika ihr Leben lang gewünscht und vorgestellt hatte – sie hatte es fast schon aufgegeben, ihn zu finden.
Der Mann war etwas zurückhaltend, aber das war kein Problem. Erika war schön und konnte sehr charmant sein, und sie wusste das. Sie setzte also alle ihre Fähigkeiten ein, um den Mann zu erobern. Nach einiger Zeit gelang es ihr auch: Er wurde „ihr“ Mann.
Sie lebten lange zusammen und waren glücklich. Sie hatten bezaubernde Kinder und jeder in ihrem Bekanntenkreis beneidete sie um ihr Glück. Erika war aber auch sehr eifersüchtig und traute den Männern nicht. „Männer sind doch immer nur auf das eine aus …“, so dachte sie immer wieder. „Ob mein Mann auch so ist?“, fragte sie sich eines Tages, nachdem sie mit ihren Freundinnen über dieses Thema diskutiert hatte. „Ob er mir bisher treu war? Wenn es so ist, dann sicher nur deshalb, weil er keine Gelegenheit oder zu viel Angst vor meiner Eifersucht hatte. Ich werde seine Treue testen. Zunächst einmal muss ich mich rar machen, denn wenn er mich immer dann, wenn ihm danach ist, lieben kann, dann ist es ja kein Wunder, dass er mich nicht betrügt.“
Sie erklärte also ihrem Mann, dass sie