Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Leibovici-Muhlberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783902862464
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unser Kind erzogen haben, wird nun als grundsätzlich verantwortungslos oder gar als potenzieller Missbraucher erlebt, vor dem es unser Kind zu schützen gilt. Eine entsprechende Mechanik wird in Gang gesetzt – und die Leidtragenden dabei sind die Kinder.

       Das romantische Ideal im 21. Jahrhundert

      * Mit der »Erfindung« des Ich und des Individualismus geht eine veränderte Selbstwahrnehmung und die Etablierung des romantischen Ideals als beziehungsbegründend einher.

      * Die Wichtigkeit von sozialer Einbindung und Gruppenzugehörigkeit für die Selbstbeglaubigung des Einzelnen tritt in den Hintergrund.

      * In einer zunehmend fragmentierten, hyperindividualistischen Gesellschaft wird die Paarbeziehung zum letzten Rückzugsort eines reklamierten Angenommenseins.

      * Die Paarbeziehung erleidet als »Zuständigkeitsort des Lebensglücks« eine die Leistbarkeit übersteigende Überfrachtung.

      * Ein Scheitern der Paarbeziehung als Projektionsort des Lebensglücks wird vielfach als tiefe narzisstische Kränkung erlebt und schafft die Basis für Rachebedürfnisse.

      * Dies bildet bedingt durch die damit einhergehende hohe Emotionalisierung die Basis für die primäre Unmöglichkeit, das Scheitern der Paarbeziehung von der dem Kind geschuldeten elterlichen Verantwortung zu kooperativer Elternschaft abzugrenzen.

      2.

      Warum Kinder an beiden Elternteilen so sehr hängen

      Die knapp sechsjährige Sibylle nimmt die Information, dass ihre Eltern sich scheiden lassen, mit scheinbar großer Gelassenheit zur Kenntnis. Die Aussicht, dass ihre Eltern nicht mehr zusammenleben werden und damit die ewigen lautstarken Streitereien ihr Ende haben, findet sie sehr positiv. Schließlich geht sie ja auch selber in ihrer eigenen Kindergartengruppe einem Jungen, der sie immer wieder geneckt hat, aus dem Weg und ist mit dieser Methode sehr gut gefahren.

      Die Erklärungen ihrer Eltern zu deren Scheidung sind für sie schlüssig und nachvollziehbar. Als ihr Vater jedoch zwei Wochen nach dem Aufklärungsgespräch beginnt, seine persönlichen Sachen zu packen, und den Abtransport einiger Einrichtungsgegenstände mit der Mutter diskutiert, ändert sich der Sachverhalt plötzlich dramatisch. Sibylle kann abends nicht mehr allein einschlafen, wacht von Alpträumen geplagt mehrfach auf und beginnt einzunässen. Es stellt sich heraus, dass sie davon ausgegangen ist, dass ihr Vater nach der Trennung von der Mutter zu ihr ins Kinderzimmer ziehen würde. Jetzt fühlt sie sich von ihm verlassen und ist völlig verstört.

      Sibylle ist »nur ein unvernünftiges« junges Kind, und dennoch manifestiert sich in ihrer Reaktionsweise auf die Scheidung der Eltern, wie in ihrem nachfolgenden Verhalten, eine tiefere, sehr alte, ja man ist geneigt zu sagen, evolutionsbiologische Vernunft. Dass ihre Eltern nicht mehr miteinander können, ist ihr, am Modell ihrer eigenen Lebenswelt anschließend, durchwegs nachvollziehbar und macht angesichts der belastenden Konfliktsituation auch Sinn.

      Doch Sibylle liebt beide Eltern gleichermaßen. Sie bezieht von beiden Elternteilen in deren jeweiliger Rolle als Vater und Mutter Nahrung, Schutz, Geborgenheit, Identität und einen Beitrag für die Herausbildung ihrer eigenen Geschlechtsrolle. An Sibylles Beziehungsbedürfnis zu beiden Elternteilen hat sich durch den Paarkonflikt nichts geändert.

      Ihr Papa bleibt ungebrochen jene Person, der sie sich in wilden Spielen anvertraut, mit der sie wohlige Erinnerungen an Kartonburgbauten und zahllose andere Erlebnisse, die die Basis des Vertrauens bilden, verbindet. Dies gilt für Sibylles Mama ebenso, mit der sie zuerst an der Brust und später mit einem Kuscheleinschlafritual gelernt hat, sich dem Schlaf anzuvertrauen, mit der sie Friseur spielt und der sie mit kleinen Gesten im Haushalt zu helfen beginnt.

      Sibylles persönliche Beziehungsinteressen zu beiden Elternteilen sind also, unbeeinflusst vom »Beziehungs-Aus« auf der Paarebene, ungebrochen. Die Annahme, dass ihr Papa nun zu ihr ins Kinderzimmer ziehen würde, das noch dazu ein zweites Bett beherbergt, erscheint aus der kindlichen Logik, so abstrus dies für den Erwachsenen wirken mag, durchwegs nachvollziehbar. Umso mehr ihre nachfolgende Reaktion, als sie erfahren muss, dass ihr geliebter Papa von zu Hause wegzieht und sie, wie sie es als Erstreaktion des Totalitarismus junger Kinder befürchtet, verlässt. Auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn Sibylle verstört reagiert.

      Warum ein Kind durch die Trennung der Eltern eine existenzielle Bedrohung verspürt, ist eine sehr alte Geschichte. Vor rund zweieinhalb Millionen Jahren haben sich die Entwicklungslinien von Schimpansen sowie Bonobos und die unserer eigenen Spezies voneinander zu trennen begonnen. Unsere Spezies verdankt ihren fundamentalen und unleugbaren Entwicklungserfolg, wenn wir unsere »nächsten Verwandten« betrachten, einer spezifischen sozialen Erfindung, über die wir, dank ihrer Selbstverständlichkeit, nicht gewohnt sind nachzudenken: der Erfindung des Paares. Dieser entscheidende Schritt, der uns von unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, deren Entwicklung die letzten zweieinhalb Millionen Jahre vergleichsweise unspektakulär ablief, abgekoppelt hat, ermöglichte in der Folge Unwahrscheinliches – letztendlich, dass wir heute Wolkenkratzer bauen, zum Mond fliegen und iPads benutzen.

      Die Erfindung des Paares und daran anknüpfend die Ausbildung von Familiengefühl und Zugehörigkeit verliehen nämlich einer anderen Entwicklung, dem kontinuierlichen aufrechten Gang, erst wirklich Sinn. Dieser, der aufrechte Gang nämlich, hatte sich als äußerst nützlich erwiesen, um zu einem besseren Überblick im Busch- und Savannenland und somit einem besseren Informationsstand über potenzielle Feinde zu kommen. Es ist leicht einzusehen, dass es sich dabei um eine äußerst nützliche Sache für Exemplare einer derart wehrlosen Spezies wie der unseren handelt, denn weder scharfe Reißzähne noch Klauen, feste Panzerungen oder besondere Geschwindigkeit und Ausdauer stehen in unserer physischen Ausrüstung zur Verfügung. Entgegen immer wieder geäußerten Behauptungen, der Mensch wäre der Jäger, waren wir den überwiegenden Teil unserer von der Evolution geprägten Existenz über die Gejagten. In der Conclusio muss attestiert werden: Der aufrechte Gang war ein echter Hit, ein Propeller in der Besiedlung neuer Lebensräume – doch nur in Kombination mit weiteren neuen Strategien.

      Es war noch kein nachhaltiger Weg gefunden, um im Überlebenskampf einen Pokal gewinnen zu können. Im Unterschied zu im sonstigen Tierreich erprobten Angriffs- oder Verteidigungsausrüstungen, Tarn- oder Fluchtmechanismen, setzte Mutter Natur bei unserer Spezies auf eine neuartige, ganz andere Strategie: ein großes, gut vernetztes und überaus lernfähiges Gehirn. Intelligenz und Schlauheit statt Kraft und Wehrhaftigkeit, Tarnen oder Fliehen.

      Diese notwendige Forderung nach einem großen, ausdifferenzierten Gehirn stellte den endlich aufrecht marschierenden und dank seines Überblicks jetzt auch ins offene Land sich hineinwagenden Vertreter unserer Spezies allerdings vor ein empfindliches Problem: Im ständigen aufrechten Gang sind, begründet durch mechanische und statische Anforderungen an die Rahmenkonstruktion des Körpers, der Beckendurchgangsöffnung im knöchernen Becken, also dem Durchtrittspfad des kindlichen Kopfes durch den Geburtskanal, klare Grenzen gesetzt. Was man da – salopp gesprochen – maximal durchbringt, ist, trotz des Tricks eines partiellen Übereinanderschiebens der Schädelknochen während des Geburtsprozesses, wenn es wirklich eng wird, letztendlich nicht verhandelbar – und leider, man muss es zugeben, kein besonders großes Gehirn.

      Damit wäre im Sinn der Zielvision einer herausragenden Intelligenz wenig Staat zu machen. Wenn wir in Rechnung stellen, dass wir gerade einmal mit einem Viertel unseres endgültigen Gehirngewichts von rund 1450 Gramm geboren werden, vermag dies den Sachverhalt ziemlich eindeutig zu beschreiben. Erwachsene Schimpansen bewältigen im Vergleich dazu mit 400 Gramm ihr Alltagsleben, was doch sehr eindeutig die dahinterliegende Strategie der Natur bei unserer Spezies, als Lösungsmodell auf »Intelligenz« zu setzen, demonstriert.

      Die Evolution sah sich hier in ihrem Plan, uns größere Besiedelungsräume, nämlich auch das offene Land, zur Verfügung stellen zu wollen, vor eine ernsthafte Anforderung gestellt. Wie ist es zu schaffen, aus einem kleinen und noch sehr unreifen Gehirn bei der Geburt eine überlegene Superschaltzentrale zu machen, die punktgenau die jeweilige Situationsanforderung erkennt und adäquat darauf reagieren kann?

      Als