Um aus Besuchswochenenden Bausteine einer wachsenden Beziehung zu machen ...
Brief an Vater Staat und Tante Justitia!
Einleitung
Mein Großvater, Geburtsjahrgang 1890, hat es, wie er mir als 90-Jähriger versicherte, zeit seines Lebens nie für notwendig erachtet, über Scheidung nachzudenken. Auch für meine Eltern, die einander 1953 die Hand zum »Bund des Lebens« reichten, und noch für die meisten Verwandten der damaligen weitläufigen Sippe, war Scheidung kein ernsthaftes Thema ihres Lebenshorizonts.
Aber bereits in meiner Generation, der jetzt gut in der Lebensmitte Stehenden, sieht es in dieser Frage ganz anders aus – und für jene, die nun gerade heiraten, so sie dies noch tun, oder für Paare, die erst vor ein paar Jahren eine Familie gegründet haben, stehen die Chancen 50:50, dass diese Konstruktion wirklich Lebenshafen bleibt und nicht irgendwann die Sturmmarke ihres Ablaufdatums erreicht.
Neben diesem gesellschaftlichen Stimmungsbild heißt das in Zahlen, dass um 1900 Scheidungen als ein recht marginales Phänomen angesehen werden konnten. Es verlangte extreme Umstände, um zu jenen wenigen zu gehören, die vorm Scheidungsrichter landeten. Auf 1,9 belief sich die damalige Gesamtscheidungsrate, also jener Prozentsatz der Ehen, die durch eine Scheidung (und damit nicht durch den Tod eines der beiden Ehepartner) endeten.1
Basis für die Berechnung der Gesamtscheidungsrate sind die im jeweiligen Jahr beobachteten Scheidungen, die in Beziehung zu jenen Eheschließungsjahrgängen gesetzt werden, aus denen sie stammen. 1957 lag dieser Wert noch bei 13,7, um dann konstant in die Höhe zu klettern und 2007 die bisherige historische Höchstmarke von 49,5 zu erreichen.2
Betrachtet man ergänzend auch die Zahl der Eheschließungen, so zeigt sich, dass im Vergleich zwischen 1947 mit 75.484 Eheschließungen, was 10,8 auf 1000 der Bevölkerung bedeutet, und 2011 mit seinen im Vergleich mageren 36.426 Hochzeiten, und damit 4,3 auf 1000 der Bevölkerung, mehr als eine Halbierung der Ehewilligkeit zu verzeichnen ist.3
Damit verbunden und für unser Thema natürlich von besonderer Relevanz ist eine Zunahme der Unehelichenquote, also jener Zahl der Kinder bezogen auf jeweils 100 Vergleichskinder, die nicht in ehelichen Verhältnissen zur Welt kommen. 2011 lag dieser Wert bereits bei 40,4.4
Die Sprache der Statistik ist scheinbar eine sehr nüchterne, doch ihre Aussagen bergen tief greifende Veränderungen des emotionalen Lebens, ja des Selbstverständnisses des Einzelnen und des dahinterliegenden sich neu formenden Menschenbilds einer Gesellschaft in sich. Im Untergebälk der Basiseinheit des Staates, der Kleinfamilie, brodelt es ganz ordentlich. Scheidung ist in. Heiraten ist out. Magmablasen einer um sich greifenden grundsätzlichen Infragestellung und ein Experimentallabor neuer Familienformen legen davon in vielgestaltiger Weise und auch auf der Plattform des Mediendialogs beredtes Zeugnis ab.
Die Familie wäre schon längst tot und immer schon eine neurotische Zwingburg gewesen, frohlocken die einen und proklamieren einen bunten Reigen neuer, dem jeweiligen Lebensabschnitt angepasster Beziehungsformen. Konservative Hardliner auf der anderen Seite leisten ungebrochen Überzeugungsarbeit, dass nur der, der auf dem Schiff Familie anmustert, die Lebensstürme sicher durchsegeln wird. Wie immer zeigen Polarisierung und Lagerbildung eine dahinterliegende Ratlosigkeit auf.
Ein grundsätzlicher und fataler Irrtum tut sich in diesem so aktiven gesellschaftlichen Umbaufeld von Familie, Trennung/ Scheidung und neuen Familienformen aus meinem Blickwinkel auf: Die Kontroverse wird aus der Sichtweise der betroffenen Erwachsenen, ihrer Bedürfnisse, Lebenspläne und Enttäuschungen geführt und nicht aus dem Blickwinkel der in diesen Konstellationen aufwachsenden Kinder. Dabei sind sie die eigentlich Betroffenen, denn das ihnen angebotene unmittelbare Alltagsleben, die Qualität der Beziehungen und erlebbaren Bindungen – all das entscheidet über ihre Prägungen und das Weltbild, das sich im heranwachsenden jungen Menschen etabliert. Letztendlich sprechen wir, um es in eine heute jedem Menschen leicht zugängliche Metapher zu bringen, vom »Aufsozialisieren des Grundbetriebssystems«, mit dem unsere Kinder ihre jeweilige persönliche Zukunft meistern müssen.
Betrachtet man den Zuwachs von psychischen Erkrankungen im Kindesalter, die breite Palette der Verhaltensauffälligkeiten von ADHS bis zum Anstieg von mit Autismus assoziierten Syndromen sowie auch den physischen Gesundheitszustand unserer Kinder,5 so müssen wir davon ausgehen, dass es bei vielen von ihnen zu einem »schadhaften Aufspielen des Grundbetriebssystems« kommt. Einer großen Zahl von Kindern gelingt es nicht, sich während des Lebensabschnitts Kindheit in einem stabilen Kosmos von Bindung und Beziehung einzurichten.
Dabei wirkt die Tatsache, eine so tief greifende Lebensveränderung wie die Trennung/Scheidung der Eltern in ihrer Bedeutung für die kindliche Entwicklung auf gesellschaftlich breiter Basis bisher außer Acht zu lassen, genauso wie das Fehlen eines grundsätzlich ritualisierten gesellschaftlichen Selbstverständnisses von Auseinandersetzung, Information und Unterstützung wie ein gefährlicher blinder Fleck, rechnet man die zukünftige Leistungsfähigkeit und strukturelle Gefügtheit unserer gerade heranwachsenden Zukunftsgesellschaft hoch. Stellt man nun noch, unabhängig vom persönlichen Leiden des einzelnen Kindes, die große Zahl der Kinder in Rechnung, die durch diesen herausfordernden Lebensphasenwechsel der Trennung/Scheidung der Eltern pro Jahr hindurch müssen, so erscheint die bisherige gesellschaftliche Taubheit weniger naiv denn fahrlässig.
Doch Kinder haben leise Stimmen. Kinder organisieren keine Demonstrationszüge, die sich in Kundgebungen und der Proklamierung eines Forderungskatalogs Gehör verschaffen können. Kinder werden eventuell verhaltensauffällig, also eine Belastung für ihr engeres soziales Umfeld oder auch die Institutionen, in denen sie sich bewegen, und sollen dann, bei aller Beteuerung der Hilfestellung, die man ihnen geben möchte, doch letztendlich wieder verhaltensbegradigt und angepasst werden.
Viele leiden auch einfach still, wirken unauffällig oder manchmal sogar unbeteiligt bis unberührt, um dennoch tiefe Wunden in ihrer Seele davonzutragen. Manche werden in dieser schweren Zeit ihrer Eltern »erfreulicherweise« sogar besonders erwachsen und selbstständig, versuchen sich als Stütze und Anker, ja als Coach ihrer eigenen Eltern – und bieten sich sogar als Partnerersatz und geduldiger Zuhörer an, damit sich ihre Eltern ihr Herz erleichtern können. Im Extremfall lassen sich Kinder in ihrer Liebe zu ihren Eltern sogar zu willfährigen Kampfgenossen im Rosenkrieg ausbilden und mutieren damit zum Henker ihrer eigenen Lebensinteressen.
Kinder werden, entgegen der Beteuerung und der sogar aus tiefstem Herzen geäußerten Überzeugung ihrer Eltern, »das Beste für ihre Kinder in dieser so schweren Zeit zu wollen«, oftmals bedingungslos im Scheidungs- und nachfolgenden Obsorgekrieg aufgerieben. Im Unterschied zum biblischen Bild des »Streits um das Kind«, in dem die wahre Mutter ihr Kind lieber freigibt, denn es zerteilen zu lassen, werden heute zahlreiche Kinder in den Obsorge- und jahrelangen