Menschen, die Geschichte schrieben. Christine Strobl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Strobl
Издательство: Bookwire
Серия: marixwissen
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843804271
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Weise werden der Teufelsbekämpfer und der Teufelsbündler damit aneinander, wenn nicht gar ineinander gerückt. Das ist nicht nur deshalb eine folgenreiche Entwicklung, weil sie bis zur wichtigsten Faustus-Version des 20. Jahrhunderts reicht, dem großen Roman Thomas Manns, in dem die titelgebende Faust-Figur in Sprache, Habitus und Herkunft als eine Lutherfigur gezeichnet wird.

      Grundsätzlich macht eine solche Assoziierung evident, worin die mythenbildende Funktion von Faustus liegt: in seiner Rolle als kultureller Wiedergänger. Mir scheint, dass die Figur deshalb zu einem Mythos der Renaissance geworden ist, weil in ihr, wie in einem Sammelbecken, die dunklen und dämonisierten Aspekte der Renaissance-Kultur zusammenfließen. Faustus ist ein „magus secundus“, wie wir gesehen haben, d. h. ein Nachkömmling, ein Abkömmling. Meine Vermutung wäre, dass diese Figur in der kulturellen Gestalt, in der wir sie durch die diversen Texte kennenlernen, von genau den Autoritäten herkommt oder sogar abstammt, die sich von ihr abzugrenzen suchen: von Luther, von Melanchthon, von Trithemius und den vielen anderen Geistesgrößen dieser großen Aufbruchszeit.

      Doktor Martinus erklärt, er habe lange und erbittert mit dem Teufel gekämpft und allein durch Gottesglauben seinen Sieg davongetragen. Johannes Trithemius erklärt, die mantischen Künste seien zutiefst verdammungswürdig, und doch muss er sich seinerseits mit Vorwürfen auseinandersetzen, er selbst, der Abt von Sponheim, habe sich diesen Künsten hingegeben und damit versündigt. Deshalb nämlich zitiert er die Visitenkarte Faustens, um daran aufzuzeigen, was man tunlichst lassen soll und was er selbst nie unternehmen würde. Die Grenzen zwischen Weißer und Schwarzer Magie, zwischen religiös fundierter und dämonisch instrumentalisierter Beschwörungskunst sind prinzipiell sehr schwer, wenn überhaupt, zu ziehen – genauso schwer, wie man vielleicht den dauernden Kampf mit dem Leibhaftigen von einem Pakt mit dem Leibhaftigen unterscheiden kann. In beiden Fällen liegt offenbar eine sehr intensive wechselseitige Beziehung vor, und wie sie jeweils endet, bleibt wohl länger ungewiss. Um solche Grenzziehungen aber immer wieder neu zu unternehmen, um Kampf von Pakt und Weiße von Schwarzer Magie zu unterscheiden, dazu wird, so meine ich, der Faustus-Mythos aufgeboten.

      Von jenem Wanderwahrsager selbst ist uns kein einziges Wort überliefert. Er ist ein Mythos in genau dem Sinn meiner eingangs skizzierten Definition: Er dient stets anderen zur Selbstbestätigung und Selbstbeschreibung, und zwar dadurch, dass sie sich kategorisch von seinem Tun und Treiben abgrenzen. Gerade aber weil von Faustus selbst kein Wort überliefert ist, sehen wir ihn gewissermaßen nur als Hohlform, im Zeugnis oder Urteil anderer und zwar zumeist solcher, die ihn kritisieren, verurteilen, verfemen und vertreiben wollen. Faustus ist eine Projektionsfigur, die uns gewiss größeren Aufschluss über die jeweiligen Erzählautoritäten, die von ihm berichten, gibt als über das, was sie von ihm erzählen. Wenn nämlich viele frühe Quellen, wie erwähnt, von der Ausweisung Faustens aus der Stadt berichten, d. h. von dem Versuch, seine Wirkungsmacht aus der christlichen Gemeinschaft auszuschließen, erzählen sie uns doch in erster Linie davon, was diese Gemeinschaft kulturell beunruhigt und umtreibt und was daher unterbunden werden soll. Somit aber erscheint Faustus meist als ein dämonisierter Wiedergänger, ja als Doppelgänger genau jener weltlichen wie religiösen Autoritäten, die gegen ihn zu Felde ziehen. Das zeigt sich nicht nur daran, dass die Figur zunehmend mit Wittenberg assoziiert wird und damit in die Nähe dessen rückt, der sich von ihr unterscheiden will. Das zeigt sich vielleicht auch an den eigentümlichen Namenswechseln, die bei der Überlieferung ins Auge fallen. Auf der Visitenkarte, die Johannes Trithemius zitiert, nennt er sich „Georgius“, in der Historia heißt er „Johannes“ und trägt mithin denselben Vornamen wie Trithemius selbst; bei Goethe später heißt er „Heinrich“, was sicher als Anspielung auf Heinrich Cornelius Agrippa zu verstehen ist, den großen Okkultisten, der ebenfalls als Gegen- wie Modellfigur zu Faustus gelten kann. Auf diese Weise mag der Namenswechsel ein weiteres Indiz für die Funktion des Faustus-Mythos sein, als Feind-wie zugleich Abbild strittiger Denker zu fungieren und daher denen, die sich von ihm abgrenzen, namentlich verbunden zu bleiben. Eins jedenfalls ist unbestreitbar: Dass Faustus über so lange Zeit so viele große Geister der Renaissance umtreibt und so regelmäßig als Negativexempel dienen muss, ist nur verständlich, weil in der Figur fundamentale Unsicherheiten dingfest gemacht werden sollen. Sie dient zur Feststellung, wenn nicht zur Austreibung, kultureller Ungewissheiten ihrer Epoche.

      GRÖSSE UND GRENZEN

      In dieser umgekehrten Sicht lässt sich im Übrigen der Titel der Historia, der oben zitiert wurde, ebenfalls anders lesen: „allen hochtragenden, fürwitzigen und gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel und abscheulichen Exempel“ kann die Geschichte von D. Johann Fausten zweifellos nur deshalb dienen, weil es von solchen Menschen offenbar etliche gibt. Als Exempel ist Faustus gerade nicht ein Ausnahme-, sondern ein Modellfall. Seine Lebensbeschreibung, kompiliert aus vorliegenden Schriften, zeigt damit etwas, das in hohem Maße typisch, weitverbreitet und charakteristisch ist für jene Zeit, so dass sich viele Leser darin wiederfinden mögen. Bei dem „Fürwitz“ nämlich, der auf dem Titelblatt genannt wird, handelt es sich um jene Curiositas, die bald zur Leitidee der neuzeitlichen Forschung aufsteigt und signalisiert, dass hier fortwährend Grenzen des Bekannten und Erlaubten überschritten werden. Die Grenzüberschreitung manifestiert sich mit den Entdeckungs- und Eroberungsfahrten, beispielsweise in die Neue Welt, zudem im konkreten geographischen Sinn: Sie erweitert physisch den Horizont, führt über die Säulen des Herkules, die für die Antike das Ende der bekannten Welt darstellten, hinaus und begründet dadurch die neue Wissenschaft.